Zur Ärztekammer Steiermark Startseite

Veranstaltungen des Fortbildungsreferates
finden Sie hier

zum Kalender...

Das wohltemperierte Gehirn: Intelligenter durch die Musik von Mozart?

Wird man intelligenter, wenn man Mozart hört? Lernt man bei Hintergrundmusik besser? Der Schweizer Forscher Lutz Jäncke beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Musik auf unser Gehirn auswirkt – und kommt zu erstaunlichen Ergebnissen: Musiker lernen leichter Fremdsprachen und erkranken im Alter wesentlich seltener an Demenz.

Es waren wissenschaftliche Gründe, die Carl Rosenbaum am 4. Juni 1809 dazu veranlassten, den Leichnam Joseph Haydns zu schänden. Nur drei Tage nach dem erstaunlich bescheidenen Begräbnis des damals berühmtesten Tonsetzers Europas fuhr der Wiener Forscher im Morgengrauen auf den Friedhof vor die Stadt hinaus und schaufelte den Sarg des Komponisten frei.

Rosenbaum glaubte an die neuartige „Schädellehre“, derzufolge man „aus Buckeln und Erhebungen des knöchernen Schädels eine besondere Entwicklung der darunterliegenden Hirnregionen und damit eine besondere geistige oder seelische Veranlagung ihres Trägers“ erschließen könne. Staunend nahm er Haydns abgetrennten Kopf in die Hand. „Es roch heftig“, notierte der Wissenschafter später in seinem Arbeitsjournal. „Als ich den Pack im Wagen hatte, musste ich mich übergeben. Der Gestank ergriff mich zu sehr.“

Rosenbaum bewahrte das exquisite Cranium auf einem weißseidenen Kissen in einem schwarz polierten, mit einer goldenen Lyra verzierten Gehäuse auf. Der einstige Beamte des Esterházy’schen Hofs wusste noch nicht, dass die graue Masse bei Musikern an bestimmten Stellen dichter und die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften breiter ist als bei Nichtmusikern. Er wollte dem Geheimnis eines Genies auf die Schliche kommen, doch anstatt MRTs zu machen, konnte Rosenbaum den Kopf nur exakt vermessen.

Es ist schon merkwürdig: Theodor W. Adorno hatte bei Alban Berg Komposition studiert, ehe er einer der berühmtesten Philosophen des 20. Jahrhunderts wurde; sein Wiener Kollege Ludwig Wittgenstein hatte als Kind eine solide musikalische Ausbildung erhalten; auch Albert Einstein, der Entdecker der Relativitätstheorie, hatte fast immer seinen Geigenkasten mit dabei. „Ich denke oft in Musik“, gestand der Nobelpreisträger einmal. „Ich weiß, dass mir die meiste Lebensfreude aus der Geige kommt.“

Mozart. Als erster Forscher sprach der französische Arzt Alfred A. Tomatis (1920 bis 2001) vom „Mozart-Effekt“. Der Mediziner glaubte fest daran, dass sich das Hören besonders von Mozart-Musik positiv auf das Gehirn und dessen neuronale Netzwerke auswirken würde. 1993 legte der Physiker Gordon Shaw in der angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift „Nature“ erstmals eine Studie vor, die den Effekt zu belegen schien.

Der Forscher testete 36 College-Studenten, indem er ihnen unterschiedliche Musik beziehungsweise gar keine Musik vorspielte, ehe er sie einem Intelligenztest unterzog. Das Ergebnis war erstaunlich: Nach zehn Minuten von Mozarts Sonate für zwei Klaviere in D-Dur (KV 448) lag der durchschnittliche IQ der Versuchspersonen bei 119 Punkten. Nach Entspannungsmusik lag er bei 111 Punkten, nach zehn Minuten Stille bei 110 Punkten.

Sollte ein Quäntchen von Mozarts Genie also allein durch das Hören seiner Musik sogar auf Menschen abfallen, die von Sonatenhauptsatzform und Quintenzirkel nicht die geringste Ahnung haben? Gibt es tatsächlich spezifische Transfereffekte vom Musizieren zu anderen geistigen Tätigkeiten, die nichts mit Musik zu tun haben? Und: Lernen Teenager bei Hintergrundmusik besser?

Shaws Studie löste einen regelrechten Forschungsboom aus. Während Shaw ein Institut mit dem Namen „Music Intelligence Neural Development“ gründete und der Forscher Don Campbell behauptete, er habe durch Summen, Beten und durch das Auflegen einer vibrierenden Hand an der rechten Seite seines Schädels ein Blutgerinnsel in seinem Gehirn verschwinden lassen, ließen die Gouverneure der US-Staaten Tennessee und Georgia Mozart-CDs an Neugeborene verteilen und stellte der bulgarische Psychologe George Lozanov in Aussicht, dass man sich an nur einem Tag bis zu tausend Vokabel einprägen könne, würde man während des Lernens unter seiner Anleitung Georg Friedrich Händels „Wassermusik“ hören.

„Derartige Behauptungen sind unseriös und absolut überzogen“, kommentiert der Schweizer Neurologe Lutz Jäncke die Sensationsmeldungen, die in den neunziger Jahren selbst im „Spiegel“ und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ Furore machten. Nun hat der Wissenschafter, der im Rahmen des Symposiums „Musik und ­Gehirn“ (1. bis 8. November) auch Gast des Musikfestivals Wien Modern sein wird, den aktuellen Forschungsstand in seinem Buch „Macht Musik schlau?“ auf über 400 Seiten zusammengefasst. „Musik trainiert eine ganze Reihe von psychischen Funktionen, die wir auch für andere Sachen sehr gut gebrauchen können“, so Jäncke zu profil. „Aber Musik macht nicht zwingend intelligenter. Man wird alleine durch Musikhören nie eine Differenzialgleichung lösen können.“

Es gibt Lernmethoden, die wesentlich besser funktionieren als das Hören von Händels „Wassermusik“. So publizierte der schwedische Psychologe Timo Mäntylä bereits 1986 einen spektakulären Befund, wonach die Merkleistung beim Lernen von 600 Wörtern von mickrigen sechs Prozent auf stolze 90 Prozent zunehmen kann, wenn die Lernenden angehalten werden, zu jedem Vokabel drei Assoziationen zu bilden. Im Unterschied zu den Ergebnissen der Musikstudien konnte der Mäntylä-Befund bei geeigneter Versuchsanordnung immer wieder repliziert werden.

Der Oasis-Effekt. „Musik vermag die Stimmung aufzuhellen und unterstützt das Lernen deshalb indirekt“, so Jäncke. „Diese Gefühle sind wesentlich verantwortlich für den Lernerfolg von gleichzeitig oder nachträglich dargebotenem Lernmaterial.“ 2005 wurden an 207 britischen Schulen in Zusammenarbeit mit der BBC mehr als 8100 Kinder im Alter von zehn bis elf Jahren diesbezüglich untersucht. Das Ergebnis der aufwändigen Studie: Die Schüler lernten vor allem dann besser, wenn sie Musik hörten, die ihnen gefiel. Blur und Oasis stellten sich als wesentlich wirksamer als Mozart heraus.

Der Neurologe Eckart Altenmüller von der Hochschule für Musik in Hannover (siehe Interview) bestätigt Jänckes Ergebnisse. „Musik kann definitiv dabei helfen, die Wachheit und Durchblutung des Gehirns zu fördern. Doch hängen die Effekte von bestimmten Rahmenbedingungen ab. Konzentriert man sich etwa zu stark auf die Hintergrundmusik, muss das Gehirn zwei Prozesse gleichzeitig kontrollieren, und die Lernleistungen sinken dementsprechend wieder.“

Während die Forschung also den Mozart-Effekt sukzessive entmystifiziert, fördern aufwändige Längs- und Querschnittstudien seit rund zehn Jahren bemerkenswerte Unterschiede zwischen Musikern und Nichtmusikern zutage. Es ist schon erstaunlich: Herbert von Karajan etwa dirigierte selbst komplexe Musikstücke wie Igor Strawinskys „Feuervogel“ auswendig, der Tenor Placido Domingo studierte im Lauf seiner langen Karriere 126 Opernrollen ein, und Lang Lang konnte schon als Kind Tschaikowskys Klavierkonzert auswendig.

Auch Pop-Musiker wie Robbie Williams oder Madonna verfügen über ein phänomenales Gedächtnis: Sie schmettern in gigantischen Stadien pro Auftritt 20 verschiedene Songs, merken sich nicht nur Text und Melodie, sondern auch komplexe Tanzchoreografien. 2003 untersuchte eine Arbeitsgruppe rund um den chinesischen Forscher Y. C. Ho, wie sich ein Jahr Musikunterricht auf die verbale Gedächtnisleistung von Kindern auswirkt – und berichtete im Fachblatt „Neuro­psychology“ von den markanten Ergeb­nissen.

Untersucht wurden 50 Kinder im Alter von sieben bis elf Jahren. 17 Kinder begannen als Anfänger in einem Orchester zu spielen. 24 weitere Kinder hatten bereits ein Jahr lang Musikunterricht genossen und nahmen nun für ein weiteres Jahr an dem Orchestertraining teil. Die dritte Gruppe absolvierte ebenfalls ein Musiktraining, brach dieses aber nach drei Monaten wieder ab. Im Rahmen der Gedächtnistests wurden den Kindern 16 Wörter vorgelesen. Nach dem Vorlesen wurden die Kinder aufgefordert, sich an die Wörter zu erinnern. Bei den Anfängern stieg die Leistung innerhalb eines Jahres um 20 bis 25 Prozent, die Fortgeschrittenen konnten immerhin noch eine Verbesserung von zehn Prozent erzielen. Die Abbrecher hingegen wiesen sogar eine deutliche Einbuße ihrer Gedächtnisleistungen auf: Am Ende des Jahres merkten sie sich zehn Prozent weniger.

Plastisches Gebilde. Doch Jäncke warnt vor überzogenen Erwartungen. „Es wurde nie getestet, was beispielsweise zusätzlicher Schach-, Sport- oder Sprachunterricht erbracht hätte“, gibt der Wissenschafter zu bedenken. „Keiner fragt, ob der Aufwand und die Leistungssteigerungen in einem akzeptablen Verhältnis zueinander stehen. Vielleicht würde man ja mit einem gezielten Training von Intelligenz- und Gedächtnisfunktionen mehr in weniger Zeit erreichen.“

Das Gehirn ist ein plastisches Gebilde: Es verändert seine Struktur abhängig davon, wofür es benützt wird. Wenn ein Baby zur Welt kommt, beträgt das Hirngewicht rund 400 Gramm. Während der folgenden sechs Jahre wächst es etwa um das Dreifache, danach bleibt seine Größe überraschenderweise annähernd gleich: Das erwachsene Gehirn wiegt 1,3 Kilogramm, und man schätzt, dass es aus etwa 100 Milliarden Gehirnzellen, also Neuronen besteht. Die neuronalen Netzwerke verändern sich permanent. Den ersten Beleg dafür, dass Musizieren jene Hirngebiete verändert, die an der Kontrolle des jeweiligen Instruments beteiligt sind, hat 1995 die Konstanzer Arbeitsgruppe um Thomas Elbert publiziert. Mittels MRT-Messungen konnte gezeigt werden, dass die sensomotorische Repräsentation der linken Hand im Gehirn bei Geigern wesentlich größer ist als bei Nichtmusikern. Damit war bewiesen: Musizieren verändert tatsächlich das Gehirn.

Zum Beispiel: Die linke und die rechte Gehirnhälfte sind durch einen Balken miteinander verbunden. Dieser ist an seiner vorderen Spitze von „Kabeln“ durchzogen, die Teile des Stirnhirns beider Hemisphären miteinander verbinden, also Bereiche, die für die motorische Kontrolle der Hände und Beine, aber auch für die Kontrolle der Aufmerksamkeit zuständig sind. Diese Balkenbereiche sind bei Profimusikern besonders groß und dick. Auch die Dichte der grauen Substanz ist von der Leistungsfähigkeit der Funktionen abhängig, die vom jeweiligen Hirngebiet kontrolliert wird. Als graue Substanz bezeichnet man jene Gebiete des Zentralnervensystems, die vorwiegend aus Nervenzellkörpern bestehen. Auch hier konnten Studien beweisen: Profimusiker verfügen in Hirngebieten, die für die Ausübung von Musik besonders wichtig sind (siehe Grafik Seite 109), über eine größere Dichte der grauen Substanz als Nichtmusiker. Was bedeutet dies aber für eventuelle Transferleistungen von Musik auf andere Tätigkeiten? Bringt die spezifische Struktur von Musikerhirnen anderweitig verwertbare Nebeneffekte mit sich?

Sprache. Es ist bestimmt unmöglich, musikalischer zu sein als Daniel Barenboim. Der argentinische Pianist hat schon 15-­jährig sämtliche 32 Beethoven-Sonaten eindrucksvoll auf Schallplatte eingespielt, diese Mammutleistung später mehrfach wiederholt, hat aber auch alle (!) Mozart-Sonaten und -Konzerte sowie Schubert, Chopin, Schumann, Liszt und Brahms immer wieder fesselnd dargeboten. Seine Interviews gibt der amtierende Chef der Berliner Staatsoper wahlweise auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Hebräisch oder Französisch: Barenboim spricht fünf Sprachen fließend.

Die auffällige Sprachbegabung von Musikern ist kein Zufall: Musik und Sprache werden teilweise von denselben neuronalen Netzwerken verarbeitet. Wer seine Hörfähigkeit an Klängen, Akkorden, Tonintervallen, Rhythmen und Melodien schult, kann automatisch auch die Intonation eines Satzes, den Klang eines Lauts oder andere musikalische Eigenschaften der Sprache schneller entschlüsseln. Die durchaus praktische Konsequenz: Musiker lernen Fremdsprachen besser.

2006 untersuchten Wissenschafter der San Diego University 50 Japaner, die in den USA lebten und dort Englisch gelernt hatten. Überprüft wurden neben Aussprache, Grammatik und dem Wortschatz auch die musikalische Gewandtheit der Teilnehmer. Keine andere Variable beeinflusste die fonologischen Leistungen in der Fremdsprache mehr als die musikalischen Fertigkeiten. „Spontan würde man ja vermuten, dass die Dauer des Aufenthalts oder die Häufigkeit, mit der das Englische angewendet wird, in diesem Kontext eine wichtigere Variable wäre“, kommentiert Jäncke. „Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Einflussgrößen vergleichsweise unwichtig waren.“

Den neurologischen Beweis für den Zusammenhang von Musik und Sprache konnte Stefan Kölsch von der Universität Sussex liefern, der im profil-Gespräch erzählt: „Wir haben anhand der Messung hirnelektronischer Potenziale festgestellt, dass die neurophysiologischen Mechanismen der Sprachverarbeitung bei Kindern, die selber Musik machen, früher und deutlich stärker entwickelt sind als bei Kindern ohne Musiktraining.“

Seither hat eine Reihe unabhängiger Studien nachgewiesen, dass Kinder mit Sprachlernstörungen ihre Lese- und Schreibleistungen mittels Musiktherapie verbessern können. „Das ist deswegen relevant, weil Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen im Klassenzimmer oft weniger mitkriegen“, so Kölsch. „Sprache ist ein wesentlicher Teil unserer Intelligenz. Wer kompetenter und flinker damit umgehen kann als andere, hat auch in Hinblick auf die allgemeine Schlauheit einen gewissen Vorteil.“
Doch nicht nur bei Kindern, auch im Alter hat Musik eine durchaus spektakuläre therapeutische Funktion: Sie scheint bis zu einem gewissen Grad vor Demenz zu schützen. Der Arzt Joe Verghese publizierte 2003 im „New England Journal of Medicine“ eine aufsehenerregende Langzeitstudie. Die Forscher hatten über zwei Jahrzehnte hinweg untersucht, unter welchen Bedingungen ältere Menschen Demenz entwickeln. Das Demenz-Risiko war bei jenen Testpersonen, die am häufigsten Brettspiele spielten, tanzen gingen oder am fleißigsten ein Instrument lernten, um bis zu 63 Prozent geringer als bei jenen alten Menschen, die am seltensten an diesen drei Freizeitaktivitäten teilgenommen hatten.

„Früher haben wir Neurowissenschafter den Bereich Musiktherapie nicht so ernst genommen“, gesteht Jäncke. „Diese Einstellung hat sich aber in den vergangenen fünf bis zehn Jahren deutlich gewandelt. Wenn man klassische Memory-Trainings anwendet, irgendwelche Telefonnummern auswendig lernt oder sonstige wirklichkeitsferne Übungen absolviert, hat unser Gehirn keinen Spaß daran. Musik ist diesbezüglich viel besser geeignet, weil sie Freude bereitet.“

Macht Musik also schlauer? „Sie trainiert zumindest die Aufmerksamkeit, schärft die Konzentrationsfähigkeit und hebt die Selbstdisziplin“, so Jäncke. Natürlich lässt sich Demenz durch Musik nicht heilen, natürlich kuriert ein bisschen Mozart keine Sprachstörung, natürlich versteht niemand plötzlich Französisch, wenn er Klavierspielen lernt. „Doch im Vergleich zu Theater oder Fußball oder vielen anderen Dingen hat Musik den großen Vorteil, dass sie verschiedene Dinge gleichzeitig trainiert“, ergänzt Kölsch. „Musik trainiert nicht nur das mathematische Verständnis oder die akustische Wahrnehmung, sondern auch die multimodale Integration, also die Fähigkeit, das, was man sieht, mit dem in Verbindung zu bringen, was man hört. Körperwahrnehmung ist wichtig, auch eine gewisse Feinmotorik sowie soziale Kompetenzen: Ich denke schon, dass Musik neurologisch etwas ganz Besonderes ist.“

Carl Rosenbaum hatte also Recht mit seiner Vermutung, dass Joseph Haydns Schädel etwas ganz Besonderes war: Nur wenige Gehirne dürften von Musik so stark modifiziert worden sein. Mit der wunderbaren Konsequenz, dass Haydns Musik ganz fantastisch gelang.

Von Peter Schneeberger
www.profil.at 25.10.2008




zur Übersicht
Folgen Sie uns: Folgen Sie uns auf YoutubeFolgen Sie uns auf XFolgen Sie uns auf Facebook

Die Ärztekammer Steiermark . Alle Rechte vorbehalten

IMPRESSUM | DATENSCHUTZERKLÄRUNG | PRESSE