AERZTE Steiermark 06 2014 - page 11

Ærzte
Steiermark
 || 06|2014
11
Fotos: Fotolia, Integral
Titel
Die Milieus verstehen
er Erkenntnisse der Patient­
entypologie berücksichtigt.
Dabei werden im Rahmen
einer psychoonkologischen
Basisdiagnostik körperliche,
seelische und soziale Ein-
flussfaktoren auf Krankheits-
verlauf und Arzt-Patient-
Kommunikation erhoben, die
dann als Ausgangspunkt der
Beratungsgespräche dienen.
„Während wir heute in prak-
tisch allen Gebieten der Me-
dizin evidenzbasiert arbeiten,
verwenden wir in der ärzt-
lichen Gesprächsführung
nach wie vor das berüchtigte
‚Learning by doing‘, bei dem
sich der Arzt intuitiv auf die
Bedürfnisse seines Gegenü-
bers einstellt (oder eben auch
nicht). Die Beschäftigung mit
Patiententypologien erweitert
die Handlungsoptionen“, so
der im AKH Wien tätige Me-
diziner.
Wie eine solche Differenzie-
rung der Patientinnen und
Patienten in Zukunft erfolgen
kann, bedarf einiger Klä-
rungen. Einer der wichtigsten
Punkte wäre – wenn man
etwa an die Leistungsvergü-
tung denkt, – die Aufwertung
der Gesprächsmedizin.
Die Umfrage „Der Patient
im Mittelpunkt“ wurde im
Dezember 2013/Jänner 2014
durchgeführt. Integral Markt-
und Meinungsforschung führte
dazu 1.000 Mixed Mode Inter-
views mit ÖsterreicherInnen
durch (780 Onlineinterviews
mit regelmäßigen Internetnut-
zerInnen & 220 telefonische
Interviews mit seltenen und
NichtnutzerInnen des Internet).
AERZTE Steiermark:
Wie kann die Ärztin/
der Arzt die Patientin/den Patienten in der
gegebenen – meist kurzen – Zeit einordnen?
Bertram Barth:
„Eine exakte schnelle Ein-
ordnung ist in kurzer Zeit nicht möglich
und auch nicht notwendig. Was wichtiger
ist: Das Bewusstsein für Problem-Milieus zu
schärfen, speziell für ihre kommunikativen
und psychischen Dispositionen, damit auch
flexibel und empathisch auf spezifische Pro-
blemlagen reagiert werden kann.“
Welche Milieus brauchen in Gesundheitsfra-
gen die meiste Aufmerksamkeit?
Barth:
„Die zentralen ‚Problem‘-Milieus
mit einem hohen Ausmaß gesundheitlicher
Probleme und gleichzeitig geringem Gesund-
heitsbewusstsein sind die
Konsumorientierte
Basis
, die
Hedonisten
und die
Traditionellen
.
Das sind gleichzeitig auch die Milieus, die
sich am wenigsten artikulieren und von daher
leicht ‚übersehen‘ werden.“
Wie ist mit kritischen Milieus umzugehen,
die für ihre Gesundheit kaum Verantwortung
übernehmen?
Barth:
„Wenig zielführend sind moralische
Appelle oder Drohungen mit Gesundheits-
gefährdung. Vielmehr geht es darum, die
sozialen und materiellen Benefits einer ziel-
führenden Lebensstiländerung zu propagie-
ren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig
zu verstehen, was die jeweiligen Milieus
wirklich bewegt, was für sie motivierend ist.
Im Fall der
Konsumorientierten Basis
etwa
ist das zentrale Motiv, mithalten zu wollen,
anerkannt zu sein, an die Standards der Mitte
anzuschließen. Damit ist ihr Leitmilieu die
Bürgerliche Mitte
. Die Argumentation für
Lebensstiländerung könnte nun z. B. auf
die Leitlinie der
Bürgerlichen Mitte
Bezug
nehmen: ‚Alles mit Maß und Ziel‘. In diesem
Zusammenhang sollte man gesündere Ernäh-
rung, Bewegung, mäßigerer Alkoholkonsum
etc. als Standards der Mitte erläutern.“
Gibt es für die Ärztin/den Arzt ein „einfach zu
behandelndes“ Milieu?
Barth:
„‚Einfach‘ sind am
ehesten die Milieus, deren
Lebenswelten für die Ärzte
aufgrund ihrer eigenen
Milieu-Lagen am ehesten
zugänglich sind. Ärzte kom-
men in der Regel aus den
gehobenen Milieus der
Eta-
blierten
,
Performer
oder
Postmateriellen
.
Schwer nachvollziehbar sind für sie die Mili-
eu-Logiken der momentbezogenen Lustma-
xierung der
Hedonisten
oder der resignativen
Verweigerung der
Konsumorientierten Basis
.“
Welche Schlüsse sollen/müssen Entscheidungs-
träger im österreichischen Gesundheitssystem
aus dieser Studie ziehen?
Barth:
„Die unterschiedlichen Lebenswelten
implizieren unterschiedliche gesundheitsbe-
zogene Lebensstile und damit auch differen-
zielle gesundheitliche Problemlagen. Dabei
stehen bestimmte Milieus im Vordergrund,
weil sie für die Entscheider leichter verständ-
lich sind und/oder sich klarer und offensiver
artikulieren. Die Milieus mit den bedenk-
lichsten Risikoprofilen dagegen artikulieren
sich kaum. Gerade deswegen ist es notwendig,
sich mit diesen Milieu und ihren Lebens-
welten besonders intensiv auseinanderzu-
setzen. Erfolgreiche Gesundheitsförderung
setzt voraus, die Sprache der Problem-Milieus
sprechen und verstehen zu lernen. Relevante
Gesundheitskommunikation setzt damit
voraus:
1.
Auswahl bzw. Priorisierung der wich-
tigsten Ziel-Milieus
2.
Angemessene Auswahl der Kommuni-
kationskanäle
3.
Bestimmung der milieuadäquaten Argu-
mentationsweise
4.
Verwendung verständlicher und rele-
vanter Sprache und motivierender visu-
eller Reize.“
Dr. Bertram Barth ist Geschäftsführender
Gesellschafter von Integral. Er studierte Psy-
chologie und Völkerkunde.
„Die Sprache der Problem-Milieus
sprechen und verstehen lernen.“
Integral-Geschäftsführer Bertram Barth zieht Schlussfolgerungen aus der
Umfrage „Der Patient im Mittelpunkt“.
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