Ærzte
Steiermark
 || 10|2013
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Foto: Heimatwerk
Promotion
i
n einem Artikel des
Magazins „Focus“ (Nr.
19/2012) unter dem Titel
„Die Wahrheit über Ärztekittel“
wird über den symbolischen
Wert des Kleidungstückes
gesprochen, wenn nämlich
laut einer Studie das Auf-
merksamkeitsvermögen der
Trägerin/des Trägers durch
bestimmte Kleidungstücke
verbessert wird. Die Studie
beschreibt, wie die Kleidung
unsere geistigen Fähigkeiten
beeinflusst: In einer Unter-
suchung sollten Probanden
Denkaufgaben lösen. Die-
jenigen, die einen Arztkittel
trugen, erzielten deutlich
mehr richtige Ergebnisse
als jene, die keinen weißen
Arbeitsmantel getragen ha-
ben. Sagten die Forscher
den StudienteilnehmerInnen
jedoch, dass sie einen Ma-
lerkittel tragen würden, so
schnitten diese schlechter
ab als die Probanden ohne
Kittel. Forscher bezeichnen
dieses Phänomen „enclo-
thed cognition“, was so
viel wie „getragene Wahr-
nehmung“ bedeutet. Man
könnte diesen Effetkt auch
mit dem bekannten Sprich-
wort „Kleider machen Leute“
umschreiben! Zumindest
würde dies auch die an-
gesprochene Studie unter-
streichen.
Aus der Perspektive der
Werkstätte des Steirischen
Heimatwerkes wiederum
kommt eine weitere Dimen-
sion dazu, denn hier gilt:
„Leute machen Kleider“! Acht
Schneiderinnen – von der
Schneidermeisterin bis hin
Ärztekittel – Steirischer Leiblkittl
zum Lehrling – geben die-
sem Handwerk alle Ehre. So
entstehen jährlich rund 450
Frauentrachten bzw. Dirndl,
die allesamt exakt nach
ihren modellspezifischen
Beschreibungen, wie sie
im Laufe der Jahrzehnte
entstanden sind, gefertigt
werden. Dabei spielt die
Handarbeit eine wichtige
Rolle und trägt zur Qualität
und Ausdruckskraft dieses
Kleidungstückes wesentlich
bei. Durch viel Fingerspitzen-
gefühl entstehen handge-
nähte Knopflöcher, per Hand
gezogene Kittl und Schürzen,
Ziernähte und Perlenstickerei
sowie Rüschen.
Rund 280 verschiedene,
regional zugeordnete und
namentlich registrierte Frau-
entrachten, gibt es in der
Steiermark. Ihrem Verwen-
dungszweck entsprechend
werden sie in Alltags-, Sonn-
tags- und Festtagstrachten
eingeteilt. Demzufolge ge-
stalten sich auch die Ma-
terialzusammenstellung,
Schnittform und Auszier.
Generell gilt: je festlicher
der Anlass, umso aufwän-
diger und schmuckvoller
die Tracht.
Die Bezeichnung „Steirischer
Leiblkittl“ beinhaltet zwei we-
sentliche Begriffe, die auf die
Zusammensetzung dieses
Kleidungsstückes hinweisen
und in ihrer Begriffsentwick-
lung bis ins 15. Jahrhundert
zurückführen, als nämlich
das „Kleid“ in einen Ober-
teil – sprich Leib – und in
einen Unterteil – sprich Rock
bzw. Kittl unterteilt wurde.
Mit der Bezeichnung Kittl
lassen sich umfassende
Interpretations- und Verwen-
dungskreise ziehen, die auch
in ihrem Aussehen variieren.
Während er im Trachten-
bereich einen gezogenen
und am Leib fixierten Un-
terteil meint, stellt derselbe
in Begriffen wie Arbeitskittel
oder Arztkittel ein mehr oder
weniger loses und gerades
Übergewand dar.
Auf jeden Fall bildet der
Steirische Leiblkittl das
Grundmodell aller Frauen-
trachten in unserem Lan-
de. Er zeichnet sich durch
eine bestimmte Muster- und
Farbkombination aus, wobei
sich Leib, Kittl und Schürze
sowohl in Farbe als auch in
der Musterung kontrastreich
zueinander verhalten.
Auch in der Schnittform gibt
dieser eine Richtung vor, die
in weiterer Folge sämtliche
Modelle erfasst. Gerundeter
Halsausschnitt, Teilungs-
nähte am Rücken, Knopf-
lochverschluss, Abnäher
am Vorderteil, passepoilierte
Nähte, gezogener Kittl und
gezogene Schürze, die am
Rücken mit einer Masche
gebunden wird, zählen zu
den markanten Merkmalen.
Das Schneiderhandwerk ge-
nerell sowie die Trachtenfer-
tigung im Speziellen sind ein
Handwerk, das viel Geschick
und Geduld erfordert. Es
bedarf langjähriger Übung,
um sich vom Ziehen eines
Kittls bis zur Ausfertigung
der Auszier z.B. einer Grazer
Bürgerinnentracht vorzuta-
sten. Zudem handelt es sich
um Fertigungsschritte, die
nicht nach Lehrbuch erlernt
werden können, sondern die
von der Schneidermeisterin
an ihre Mitarbeiterinnen wei-
tergegeben werden müssen.
Nicht zuletzt auch deshalb,
weil die Trachtenfertigung
im Sinne einer Maßschnei-
derei heute einen absolu-
ten Nischenbereich in der
Wirtschaft darstellt und so
das Wissen in den wenigen
noch vorhanden Betrieben
konserviert vorhanden sein
muss, um es überliefern zu
können.
Taucht man in die Begriffs-
welt der Trachtenfertigung
ein, begegnet man einma-
ligen Bezeichnungen, die
sich ebenfalls nur hier ge-
halten haben: So ist etwa
ein Froschgoscherl eine Rü-
sche, ein Kittlblech der an-
dersfärbige Saumabschluss
beim Kittl, der laufende
Hund ein Muster auf einem
Baumwollstoff oder aber
auch der Hansl ein karierter
Stoffstreifen, der beim Zie-
hen des Kittls eine Hilfslinie
vorgeben soll.
Die Einmaligkeit und Einzig-
artigkeit, die in einem Stei-
rischen Leiblkittl und seinen
abgeleiteten, regional zu-
geordneten „Verwandten“
vereint sind, machen diesen
zu einem ausdruckstarken
und unverkennbaren Klei-
dungsstück unserer regio-
nalen Kultur. Der Bedeu-
tungsgehalt im Sinne einer
regionalen Wertschöpfung
wird einmal mehr hervor-
gehoben, wenn es sich
zudem um ein zu 100% in
der Steiermark gefertigtes
Kleidungsstück handelt.
Mag. Evelyn Kometter
Steirisches Heimatwerk –
Volkskultur Steiermark
GmbH
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