AERZTE Steiermark 12/2025
„Kein Gesundheitszukunftsplan im ganzheitlichen Sinn“
Beate Hartinger-Klein war von 2017 bis 2019 österreichische Gesundheitsministerin. Für uns hat sie den steirischen RSG 2030 unter die Lupe genommen. Im Interview sagt sie, was sie darin überrascht hat, was zu kurz kommt und an welchen internationalen Vorbilder man sich orientieren sollte.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen im Gesundheitsbereich in der Steiermark?
Beate Hartinger-Klein: Der Versorgungsbedarf durch die Alterung der Bevölkerung wächst deutlich schneller als die Zahl der Fachkräfte und der Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur. Das System steht damit vor der Aufgabe, Kapazitäten auszubauen, Effizienz zu steigern und die Versorgung zukunftssicher zu organisieren, um auch langfristig Qualität und Solidarität zu sichern.
Die föderale Struktur in einem komplexen Finanzierungssystem erschwert jedoch Reformen und fördert das Abschieben der Verantwortung. Die Leidtragenden sind die Patienten und die Gesundheitsberufe.
Aber auch die Rolle von Gesundheitsvorsorge und Selbstverantwortung gewinnt im Gesundheitssystem an Bedeutung, sowohl durch politische Maßnahmen als auch durch gesellschaftlichen Wandel. Die „Selbstbedienungsmentalität“ muss zugunsten einer nachhaltigen Gesundheitskultur überwunden werden; das bedeutet, dass individuelle Beiträge zur Gesunderhaltung – nicht nur die Erwartung an das System – entscheidend sind.
Der RSG 2030 basiert methodisch auf einer datengetriebenen Fortschreibung historischer Versorgungsdaten unter Einbezug von demografischen Prognosen bis 2030.
Es handelt sich nicht um ein Szenariomodell im engeren Sinn, sondern um eine empirisch-normative Trendfortschreibung mit qualitativen Ergänzungen. Strukturelle Brüche, Innovationen oder neue Versorgungskonzepte (z. B. Telemedizin, KI-Diagnostik, neue Berufsrollen) werden nicht dynamisch antizipiert, sondern nur qualitativ „erwähnt“. Der Plan kann daher zu konservativ sein und künftige Entwicklungen unterschätzen. Die Projektionen stützen sich stark auf demografische Variablen (Alter, Geschlecht, Region). Faktoren wie sozioökonomische Lage, Gesundheitskompetenz oder Verhaltensänderungen werden nur am Rande berücksichtigt. Dadurch kann es zu Fehleinschätzungen bei regionalen Bedarfen kommen.
Gab es für Sie überraschende Punkte im RSG 2030?
Die wichtigsten Punkte sind der Erhalt aller bestehenden Spitalsstandorte und die Verlagerung von stationären zu ambulanten und tagesklinischen Betreuungsplätzen sowie Gesundheitszentren. Überraschend am RSG 2030 ist der Mut zur strukturellen Neuausrichtung – weg von der reinen Spitalsplanung hin zu integrierten, ambulanten und digital gestützten Versorgungssystemen, kombiniert mit innovativen, sozialraumorientierten Ansätzen (Hebammenmodelle, Hometreatment, Community Nursing) und ganzheitlichen Konzepten für selbstbestimmtes Altern. Für den Bezirk Liezen sind medizinische Kooperationen mit Salzburg und Oberösterreich vorgesehen, um Versorgungslücken zu schließen – ein in Österreich eher ungewöhnlicher Schritt.
Was sagen Sie zu den geplanten Spezialisierungen bzw. Veränderungen an den einzelnen Standorten?
Die geplanten Spezialisierungen im RSG 2030 werden insgesamt positiv bewertet, da sie zu einer klareren Profilbildung und höheren Versorgungsqualität beitragen.
Gleichzeitig entstehen jedoch erhebliche Herausforderungen: Der Strukturwandel verlangt neben Finanzinvestitionen, Akzeptanz in der Bevölkerung, enge Abstimmung zwischen den Systempartnern und ein aktives Personalmanagement, um die Umstellung auf neue Betriebsformen bewältigen zu können.
Der Erfolg hängt weniger von der Planlogik als von der Umsetzungskompetenz ab: Wie gut gelingt es, die Bevölkerung mitzunehmen? Wie werden Personal und Gemeinden eingebunden? Wer begleitet/monitort Umsetzungspläne der Systempartner? Und wie schnell folgen tatsächliche Investitionen, digitale Infrastruktur und neue Arbeitsmodelle?
Sehen Sie Punkte, die nicht oder zu wenig berücksichtigt wurden? Was kommt im RSG 2030 zu kurz?
Der RSG Steiermark 2030 ist ein professioneller, medizinisch fundierter Strukturplan, aber kein Gesundheitszukunftsplan im ganzheitlichen Sinn. Er beschreibt, wie Versorgung organisiert wird, aber nicht ausreichend, wie Gesundheit gesichert, finanziert und personell getragen werden soll. Die größte Herausforderung ist weniger die Planung, sondern die dauerhafte Absicherung der Betriebskosten und die Synchronisierung von Finanzierungslogiken (Land – Bund – Sozialversicherung).
Der RSG 2030 ist kein Gesundheitsplan, denn in der Realität verschwimmen die Grenzen zwischen medizinischer, pflegerischer und sozialer Versorgung. Pflege wird vor allem in geriatrischen Kontexten erwähnt (z. B. Remobilisation, mobiREM, Community Nursing), aber nicht als eigener strategischer Sektor mit klarer Bedarfsplanung.
Außerdem fehlen verbindliche Aussagen zu Ausbau oder Strukturierung der Pflegeheime und mobilen Dienste, zur Koordination zwischen Pflege, Akutspitälern und Hausärzt:innen und die finanzielle und personelle Absicherung dieses Übergangsbereichs.
Zwar benennt der RSG 2030 den Fachkräftemangel als eines der größten Risiken, aber es fehlt eine konkrete Personalstrategie. Die Strukturreform steht, aber das Personal fehlt. Es gibt keine Aussagen zu Ausbildungs- oder Fortbildungsquoten, keine regionalen Personalentwicklungspläne und keine Instrumente zur Bindung und Entlastung von Mitarbeitenden. Die notwendige Transformation der Arbeitswelt im Gesundheitswesen (Teilzeit, Telemedizin, neue Rollenprofile wie Physician Assistants) wird kaum aufgegriffen.
Die digitale Transformation ist eine tragende Säule des RSG 2030, doch zu wenig konkretisiert. Es gibt keine klaren Kennzahlen und Investitionspfade.
Außerdem sind Prävention und Gesundheitsförderung kaum integriert. Stichwort Notfallszeiten: Die Erreichbarkeitsanalysen sind nur summarisch beschrieben. Und es fehlt eine mittelfristige Finanzplanung mit Szenarien. Die Umsetzung wird damit politisch abhängig von Jahresbudgets, statt von stabiler, machbarer Finanzgrundlage.
Gibt es internationale Vorbilder im Gesundheitssystem, an denen man sich in Österreich orientieren sollte?
Internationale Vorbilder zeigen, dass Strukturreformen nur dann nachhaltig wirken, wenn sie von einer gemeinsamen Digitalstrategie, einer klaren Finanzierungslogik über Sektorengrenzen hinweg und einer starken primär- und gemeindenahen Versorgung begleitet werden. Dänemark hat eine der umfassendsten Spitalsreformen Europas erfolgreich umgesetzt – mit einer massiven Spitalskonzentration: von über 130 Krankenhäusern auf rund 30 „Superhospitals“. Die Primärversorgung wurde gestärkt: Hausärzt:innen als Gatekeeper mit 24/7-Diensten, enge Kooperation mit Gemeinden. Die Reform beinhaltet eine konsequente Digitalisierung: Elektronische Patientenakte, ePrescription, Telemedizin und Online-Triage (z. B. sundhed.dk) und es gibt eine kommunale Verantwortung für Pflege und Nachsorge.
Der dänische Weg entspricht konzeptionell der Richtung des RSG 2030 („digital vor ambulant vor stationär“), allerdings ist dort die Umsetzung und Finanzierung zentral koordiniert.
Niederlande brilliert durch eine Kombination aus Wettbewerb, Qualitätssteuerung und starker Primärversorgung. Der Hausarzt ist der Gatekeeper. Österreich könnte den integrierten Ansatz der Niederlande übernehmen, um Primärversorgung, Prävention und Nachsorge zu verknüpfen – etwas, das im RSG 2030 noch zu kurz kommt.
Finnland hat Versorgungslücken durch zentrale Koordination ausgeglichen. Regionale Gesundheitsbezirke (sote-alueet) mit klarer Verantwortung für Gesundheit und soziale Dienste, eine starke digitale Gesundheitsakte (Kanta-System) sowie Telemedizin in ländlichen Regionen sind die Highlights. Die steirische Strategie ähnelt dem finnischen Modell, aber es fehlt die Verzahnung von Pflege, Sozialarbeit und Medizin.
Die Schweiz zeichnet sich durch Transparenz, Qualitätsmonitoring und kantonale Planungskompetenz aus. Qualitätsindikatoren werden öffentlich gemacht (z. B. OP-Ergebnisse, Wartezeiten). Regionale Planungshoheit (Kantone) werden durch bundesweite Mindeststandards abgesichert. Steiermark/Österreich könnte vom schweizerischen Qualitätsmonitoring profitieren, um Strukturreformen nachvollziehbarer zu machen.
Foto: Johannes Zinner, Adobe Firefly