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Schreibfehler oder Schneeball: Ursprünge der Medizinmythen

Welche medizinischen Fehlinformationen begegnen Ärztinnen und Ärzten am häufigsten? Skurrile, hartnäckige, aber auch gefährliche …? AERZTE Steiermark hat eine Rundfrage unter den Fachgruppenobleuten durchgeführt.

U. Jungmeier-Scholz

Manchmal ist es nur ein kleiner Schreibfehler, der als Keimzelle für einen Medizinmythos fungiert: Wie 1982 bei jenem frankokanadischen Flugbegleiter Gaétan Dugas, der als „patient zero“ das HI-Virus in die USA eingeschleppt haben soll und über drei Jahrzehnte fälschlicherweise als Indexpatient galt. Gestützt und verbreitet wurde diese Fehlinformation unter anderem durch den Bestseller „And The Band Played On“ des Journalisten Randy Shilts.
Vor zwei Jahren konnte der Historiker Richard McKay klären, dass sich Shilts geirrt hat und die Centers for Disease Control and Prevention CDC niemals einen „patient zero“ gekennzeichnet haben. Vielmehr wurde in einem Diagramm, in das ein O für „Outside of California“ eingetragen werden sollte, weil sich Dugas zuvor außer Landes aufgehalten hatte, stattdessen eine Null (0) vermerkt, die Shilts bei der Recherche für sein Buch vermutlich missdeutet hat. Oder ist auch diese Story nur ein Mythos? Jedenfalls hat das Forscherteam um den Evolutionsbiologen Michael Worobey anhand alter Serumproben nachgewiesen, dass das HI-Virus bereits ein Jahrzehnt vor dem Fall Dugas in den USA verbreitet war.


Fachgruppenobleute berichten

In anderen Fällen verteilt sich medizinische Fehlinformation durch Weitererzählen: Vitamin C heilt Erkältungen, und Betacarotin schützt vor Krebs – klingt das nicht vertraut? Und je öfter ein medizinischer Unsinn reproduziert wird, desto eher wird er von Laien geglaubt. Denn jeder hat ihn doch schon einmal gehört und bei passender Gelegenheit wiederholt weitererzählt – nach dem Schneeballprinzip. Je bekannter ein Medizinmythos, desto häufiger konfrontieren die Patientinnen und Patienten die Ärzteschaft in der Ordination oder im Krankenhaus damit.
AERZTE Steiermark hat unter den steirischen Fachgruppenvertreterinnen und -vertretern erhoben, mit welchen hartnäckigen, skurrilen oder gefährlichen Medizinmythen sie in ihrem Berufsalltag konfrontiert werden.


(Un)gesunde Solarien

„Manche Mythen lassen sich in einer Generation leider nicht ausrotten“, erklärt Dermatologie-Fachgruppenobmann J. Thomas Kainz. Womit er zu kämpfen hat: Der Irrglaube, ein Muttermal könne durch eine Operation, wenn man hineinschneidet, gefährlich werden, begleitet Kainz ebenso beharrlich wie der Mythos, Solarien seien gesund. „Es stimmt auch nicht, dass beim Solarium die Vorteile die Nachteile überwiegen“, stellt er klar. Das ärztliche Heilmittel gegen die Fehlinformation ist für Kainz der unermüdliche Versuch, Patienten aufzuklären und Stellung zu beziehen.


Ohr nicht verwöhnen

Was Wolfgang Luxenberger, Fachgruppenobmann der HNO-ÄrztInnen, immer wieder zu hören bekommt, ist die Verwöhnungstheorie: Durch Benutzen eines Hörgerätes würde die eigene Hörfähigkeit geschädigt, das Ohr würde verwöhnt und gewöhne sich an die Hilfe. Als gefährlich stuft er den – wie schon erwähnt auch in der Dermatologie verbreiteten – Irrglauben ein, dass man einen Tumor besser in Ruhe lässt und keine Probe entnimmt, weil er sonst bösartig werden könne.
„Wertschätzende Aufklärung hilft, wenn Patienten beispielsweise an sinnlose und esoterische Untersuchungen wie Bioresonanz glauben“, erklärt Luxenberger. „Dagegen arbeitet, dass die Kassenmedizin nichts kostet und deshalb gefühlt nicht so viel wert sein kann wie die teure alternative Methode.“


Das wächst sich aus …

In ihrem Fachgebiet, so die Obfrau der steirischen Kinder- und Jugendpsychiater Doris Hönigl, sei der hartnäckigste Mythos jener, „dass sich alles auswächst“ – von den kindlichen Ängsten bis zum Rückzugsverhalten im Jugendalter. „Hinter Ängsten im Kindesalter kann oft der Beginn einer Angststörung stecken, die sich bei Fortbestand in der Persönlichkeitsentwicklung festschreibt“, erklärt Hönigl. „Hinter Rückzugsverhalten können sich Depressionen, der Beginn einer Sucht, Essstörungen oder Mobbing verbergen.“ Hönigl rät unbedingt dazu, eine Expertin oder einen Experten hinzuzuziehen, wenn das Kind in seinen Entwicklungsaufgaben eingeschränkt ist – beispielsweise bei Vernachlässigung der Freundschaft mit Gleichaltrigen oder unregelmäßigem Schulbesuch.


Auge raus aus der Höhle

Fehlsichtigkeit unterzukorrigieren gilt nach wie vor als Geheimtipp: Die Lesebrille gegen Altersweitsichtigkeit so schwach wie möglich wählen und so spät wie möglich verwenden – und Kurzsichtigkeit sowieso nie ganz auskorrigieren. „Neueste Studien zeigen, dass bei Myopie die optimale Korrektur das Beste ist“, berichtet Fachgruppenobmann Klaus Müllner. „Und ab 45 braucht man so oder so alle drei bis vier Jahre eine stärkere Lesebrille.“ Bei schielenden Babys hoffen Eltern fälschlicherweise immer noch darauf, dass sich das Problem „schon noch auswächst“.
Nach einer Katarakt-OP, so kursieren Gerüchte, dürfe man sich nicht bücken, nicht die Haare waschen und keine schwere Tasche tragen. „Wird mit moderner Technik, also Phakoemulsifikation, operiert, ist das nicht richtig“, betont Müllner.
Ein extrem skurriler Mythos, mit dem der Augenarzt trotzdem immer wieder konfrontiert wird, ist die Vorstellung, bei einer Operation würde das Auge herausgenommen und dann wieder eingesetzt.


Antibiotika fertig nehmen

„Hartnäckig hält sich das alte Dogma, Antibiotika seien bis zum Packungsende zu nehmen“, berichtet Pädiatrie-Obmann Hans Jürgen Dornbusch. „Hat das Kind abgefiebert und erscheint gesund, kann die antibiotische Therapie meist beendet werden.“
Gleich mehrere – sogar gefährliche – Mythen ranken sich um das Thema Impfen: Die bereits als wissenschaftlicher Betrug entlarvte Studie, die die Masernimpfung mit Autismus in Zusammenhang gebracht hat, kostete vermutlich mehrere Kinder das Leben. Auch die viel diskutierte „Überlastung des kindlichen Immunsystems“ durch die zahlreichen Kinderimpfungen ist für Dornbusch aus wissenschaftlicher Sicht nicht nachvollziehbar: „Während vor Jahrzehnten in fünf Impfstoffen 3.500 Antigene verimpft wurden, enthalten die heute verfügbaren 17 Impfungen nur etwa 250 Antigene“, stellt Dornbusch klar.
Hartnäckig hält sich auch der Irrglaube, die Grippeimpfung könne eine Influenza auslösen und Rauchen am Balkon sei für die in der Wohnung befindlichen Kinder unschädlich (vielmehr geben Raucher noch Stunden später mit der Zigarette inhalierte Giftstoffe an ihre Umwelt ab).
Oder: Viel zu trinken sei per se gesund. „Durch ständiges Wegspülen des schützenden Speichels entstehen bei Kindern, die permanent trinken, Zahnschäden – auch wenn sie nur Wasser zu sich nehmen.“


Flugverbot nach Brustkorrektur

Gerade erst musste in Deutschland vor Gericht geklärt werden, ob eine Frau mit Silikonimplantat in der Brust Polizistin werden kann (sie kann in diesem Fall). Aber darf sie auch unbeschwert Fluggast sein?
„Zu den häufigsten Mythen in der Plastischen Chirurgie zählt, dass Frauen nach Brustkorrekturen mit Implantaten nicht mehr fliegen dürfen, weil die Implantate platzen können“, erzählt Fachgruppenobmann Helmut Hoflehner. Und er kontert mit einem Rechenbeispiel: Der in der Tat reduzierte Kabinendruck in 10.000 Metern Höhe (0,7 bis 0,8 statt üblicherweise 1 bar) entspricht dem bei einer Bergtour in 2.000 bis 3.000 Metern Seehöhe. Nicht zu vergleichen mit den extremen Testbedingungen, denen die Implantate standhalten müssen, wie fünffache Überdehnung der Hülle oder zwei Tonnen Flächendruck und mehr. „Logisch nachdenken“, empfiehlt Hoflehner, um das Schauermärchen vom beim Fliegen platzenden Implantat als solches zu entlarven.


Routinemäßiges Schädelröntgen

Die Notwendigkeit eines routinemäßigen Schädelröntgens, wenn man sich den Kopf ein bisschen stärker angeschlagen hat, zählt Fachgruppenobmann Peter Schmidt zu den am häufigsten verbreiteten Mythen im Bereich der Radiologie. Am Schädelröntgen könne man da nichts Relevantes sehen, auch keine kleinen Fissuren. „Im Falle eines Schädelbruchs befindet sich der Patient ohnehin in tiefer Bewusstlosigkeit, die nicht zu übersehen ist.“


Lebensgefährlicher Mythos

Ein lebensgefährlicher Medizinmythos ist im Bereich der Psychiatrie weit verbreitet, berichtet Fachgruppenobmann Rudolf Hirsch: Es handelt sich um den Irrglauben, dass Menschen, die über einen geplanten Suizid sprechen, ihn letztlich nicht ausführen.

Die beharrliche Weitergabe dieser „Volksweisheit“ führt dazu, dass immer wieder entsprechende Hinweise nicht ernst genommen werden, obwohl sie Leben retten hätten können. „Retrospektive Untersuchungen zeigen, dass Suizide fast nie aus heiterem Himmel verübt werden, so gut wie immer haben die Betroffenen ihr Vorhaben zuvor angekündigt“, erklärt Hirsch.

 

Fotos: Sommerauer, Schiffer, privat, Bigshot/Jungwirth, Furgler, Schmickl, Fotolia




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