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Lebenserwartungshaltung

„Lebenserwartung“ ist landläufig die härteste Währung, um die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitssystems zu bewerten. Nur: Es gibt statistisch betrachtet nicht nur eine Lebenserwartung, sondern mehrere. Und wenn man sich die Statistiken ansieht, ist man nicht mehr ganz sicher, ob diese Zahlen wirklich geeignet sind, um die Qualität von Gesundheitssystemen zu bewerten.

Es war eine der mächtigsten Studien zur Lebenserwartung weltweit, die eine der Ikonen unter den allgemeinen Gesundheitspublikationen, Lancet, im November 2018 veröffentlichte. Ein Aufriss der weltweiten Lebenserwartungsdaten im Vergleich zwischen 1950 und 2017. Mit einem mehr als klaren Ergebnis: Die globale Lebenserwartung von Männern ist in diesen 67 Jahren von durchschnittlich 48,1 Jahren auf 70,5 Jahre gestiegen, die der Frauen von 52,9 auf 75,6.

Besonders stark gesunken ist die Kindersterblichkeit: 1950 kamen 216 Todesfälle von unter 5-Jährigen auf 1.000 Lebendgeburten, 2017 waren es nur mehr 38,9 – weniger als ein Fünftel. Die von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützte Untersuchung zeigt natürlich auch die Probleme auf. Sie liegen in den gewaltigen Unterschieden in der Lebenserwartung. In der Zentralafrikanischen Republik liegt sie für Männer bei durchschnittlich 49,1 Jahren, für Frauen in Singapur bei 87,6 Jahren.

Dass Frauen eine höhere Lebenserwartung als Männer haben, ist eine Binsenweisheit der Gesundheitsversorgung. Sie gilt mit ganz wenigen Ausnahmen für alle Länder und Gesundheitssysteme. Sie gilt in reichen wie in armen Ländern aller Kontinente. Erklärungen für diesen „gender gap“ gibt es genug: Etwa im 2014 erschienenen „ Bericht zur gesundheitlichen Lage der Männer in Deutschland “ des Robert-Koch-Instituts. Sie bleiben aber dennoch unklar:

Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern, so die RKI-Forscher, „können nur zum Teil mit biologisch-genetischen Faktoren erklärt werden“. Man gehe davon aus, dass lediglich etwa ein Jahr (von insgesamt etwa sechs Jahren), die Männer im Mittel früher sterben, durch biologische Faktoren bedingt seien. Daher müsse es auch andere Erklärungen geben, befinden die deutschen Forscherinnen und Forscher: „Um gesundheitliche Unterschiede zu erklären, muss häufig eine Kombination verschiedener Faktoren (biologisch und psychosozial) herangezogen werden, da sich die biologisch-genetischen und die psychosozialen bzw. kulturellen Faktoren wechselseitig bedingen“, so der RKI-Bericht.

Die Lancet-Studie wiederum hat herausgefunden, dass der Unterschied der Geschlechter sich über die fast sieben Jahrzehnte kaum verändert hat. 1950 betrug die weltweite Differenz 4,7 Jahre, 2017 waren es 5,1 Jahre, die Frauen älter wurden als Männer. Wobei es zwischen Ländern und Regionen große Unterschiede gibt.

Weil die Lebenserwartung an sich und zusätzlich die sogenannten gesunden Lebensjahre (Healthy Life Years, HLY) bzw. die gesunde Lebenserwartung (Healthy Life Expectancy, HLE) gerne herangezogen werden, um die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitssystems zu bewerten, haben wir uns speziell die Werte für die wichtigen europäischen Länder (Europäische Union und andere europäische Länder) angeschaut.

Ergebnisse unklar

Die Ergebnisse sind vor allem eines: unklar. Die ältesten Männer leben in der Schweiz. 82,12 Jahre beträgt im westlichen Nachbarland Österreichs deren durchschnittliche Lebenserwartung. Es folgen die Männer in Israel und Italien. Das geringste durchschnittliche Lebensalter erreichen die Männer in Litauen mit 69,63 Jahren, gefolgt von den lettischen und bulgarischen Männern. Bei den Frauen liegen dagegen die Isländerinnen an der Spitze – mit 85,94 Jahren. Danach kommen die Spanierinnen und Französinnen. Bulgarische Frauen erreichen dagegen nur 78,58 Jahre und sind damit Schlusslicht unter den europäischen Staaten. Nicht viel besser liegen Rumäninnen und Lettinnen.

Angesichts der erheblichen Unterschiede ist es schwierig, ein Muster zu erkennen – außer vielleicht dem, dass die Lebenserwartung in den ärmeren osteuropäischen Ländern generell niedriger ist.

Noch schwieriger wird eine Interpretation, wenn man die Unterschiede der Lebenserwartung zwischen Frauen und Männern innerhalb der einzelnen Länder betrachtet: 10,57 Jahre macht sie in Litauen aus. Die nachfolgenden Länder sind Lettland mit 9,72 und Estland mit 8,44 Jahren. Da könnte man immerhin einen „Baltikum-Cluster“ vermuten. Die größte „Geschlechtergerechtigkeit“ herrscht in den Niederlanden (Differenz zwischen Frauen und Männern 3,17 Jahre), auf den nächsten Plätzen folgen Israel (3,31) und Schweden (3,39 Jahre). Diese drei Länder haben eines: wenig gemeinsam. Das gilt für das Klima, für den Lebensstil und das Gesundheitssystem.

Bei der Anzahl gesunder Lebensjahre (Datenquelle: Eurostat) ist Lettland mit 54,90 Schlusslicht, aber statt der anderen baltischen Länder kommen dann die Slowakei und Finnland. Die besten Länder sind hier bis auf den Spitzenreiter Schweden (73,30 Jahre) wieder keine alten Bekannten, sondern Malta auf dem zweiten Platz mit 72,40 Jahren und auf Rang drei Irland (69,80 Jahre).

Gesunde Unterschiede

So unsicher die Datenlage bei den gesunden Lebensjahren ist – schließlich werden die Zahlen nicht gemessen, sondern durch eine Befragung erhoben – gibt es doch einen Wert, der eine gewisse Validität hat: die Differenz zwischen Frauen und Männern. In einem Land, Dänemark, gibt es keine. Männer und Frauen erleben gleich viele gesunde Lebensjahre. Drei weitere Länder haben einen ebenfalls extrem geringen Unterschied zwischen Frauen und Männern, nämlich 0,1 Jahre oder rund 5 Wochen. Es sind Belgien, Großbritannien und – Österreich. In diesen vier Staaten ist der Geschlechterunterschied bei den Gesunden Lebensjahren besonders gering. Wobei die „Gesunden Lebensjahre“ – im Gegensatz zur Lebenserwartung an sich – in einigen Ländern die Frauen und in anderen die Männer klar vorne haben.

Die herausragenden „Frauenländer“ (in denen Frauen klar mehr gesunde Lebensjahre angeben) sind Estland, Bulgarien und Polen mit Differenzen zwischen 4,60 und 3,30 Jahren. Das ausgeprägteste „Männerland“ sind dagegen die Niederlande (Differenz 5 Jahre zugunsten der Männer, gefolgt von Norwegen mit 4,20 und der Schweiz mit 3,30 gesunden Lebensjahren).

Keine Erklärungen

Camden, ein Bezirk in Inner London, und die eher ländliche Grafschaft East Hertfordshire haben etwas gemeinsam: eine auch im internationalen Vergleich sehr überdurchschnittliche Lebenserwartung der Frauen. Die Zahlen der Nachbarregionen bzw. -bezirke sind dagegen nur durchschnittlich. Und: Bei den Zahlen für Männer sind sowohl Camden als auch East Hertforsdhire nicht so herausragend.

Wie erklären sich also die beiden Spitzenergebnisse? Am Gesundheitssystem wird es eher nicht liegen, das ist da wie dort das englische. Sind es die soziodemografischen Merkmale? Die dürften nicht allzu ähnlich sein. Camden ähnelt da wohl mehr anderen Londoner Innenstadtbezirken und East Hertfordshire eher den benachbarten ländlichen Distrikten. Und selbst wenn man eine Gemeinsamkeit fände, bliebe die Frage, warum sie für die weibliche Lebenserwartung eine größere Bedeutung hat als für die männliche.

Aber Studien neigen nun einmal dazu, nicht nur Ergebnisse zu publizieren, sondern vor allem auch Erklärungen zu präsentieren, auch wenn sie nicht befriedigend sein können. Zu den regionalen Unterschieden – nicht in England, sondern in Österreich – wurde bei den Alpbacher Gesundheitsgesprächen eine Studie der renommierten Gesundheitsökonomin Maria M. Hofmarcher und ihrer Kollegin, Zuzana Molnárová, präsentiert. Der Titel verspricht Großes: Nicht weniger als die „ Leistungskraft regionaler Gesundheitssysteme “ sollte (im Auftrag von Philips) dargestellt werden. Die Einleitung relativierte das Vorhaben. Es sei lediglich „ein Anfang getan“, schreiben die Autorinnen. Im weiteren Verlauf befasst sich die Studie eher ausführlich mit den Ergebnissen, die dank statistischer Korrelationen die Möglichkeit für Erklärungen liefern und handelt die kurz ab, wo Korrelationen fehlen.

Als wichtige Größe werden hier die „Gesunden Lebensjahre“ (HLY) herangezogen. Im Text wird zwar betont, dass es sich um Befragungsdaten handelt, im tabellarischen Vergleich bekommen die Zahlen eine objektivere Anmutung, schon weil sie gemeinsam mit handfest messbaren Werten (wie etwa der Lungenkrebs-Inzidenz) dargestellt werden. Die Bundesländerwerte der gesunden Lebensjahre unterscheiden sich in dem Bericht (basierend auf Zahlen der Statistik Austria 2014) deutlich: Mehr als sieben Jahre beträgt der Unterschied zwischen dem besten (Tirol) und dem schlechtesten Bundesland (Burgenland). Beim härtesten Wert in diesem Vergleich (Lungenkrebs, Inzidenz pro 100.000 Einwohner) sind die Unterschiede ebenfalls beträchtlich. Nur liegt hier das Burgenland sehr gut (45) und Tirol (62) eher schlecht. Was man der Studie auch entnehmen kann: Die europäischen Vergleichsdaten (Gesunde Lebensjahre, HLY) sehen Österreich mit rund 57 Jahren stark unterdurchschnittlich.

Bei der von der Statistik Austria verwendeten „ Lebenserwartung in Gesundheit “ kommen die Österreicherinnen und Österreicher dagegen auf 66 Jahre, also auf 9 gesunde Jahre mehr. Eine wirklich schlüssige Erklärung dafür gibt es nicht, es werden nur methodische Unschärfen vermutet.

Für die Gesundheitsplanung und Gesundheitspolitik sind alle diese Ungereimtheiten naturgemäß nicht befriedigend. Denn wenn es keine befriedigenden Erklärungen für Phänomene gibt, eignen sie sich auch schlecht für Reformentscheidungen.

Foto: AdobeStock, Grafik: Conclusio

 

AERZTE Steiermark 12/2018




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