AERZTE Steiermark 05 2014 - page 6

Was wäre gewesen, hätte die Europäische Kom-
mission nicht die Geduld verloren? Würde man in
Österreich dann immer noch den Kopf in den Sand
stecken, wenn Ärztinnen und Ärzte 72 Stunden
und mehr pro Woche arbeiten (müssen), 49 Stun-
den Durcharbeiten amWochenende normal ist und
Bereitschaftszeiten nicht (unbedingt) Arbeitszeit
sind? Manche würden es sich wünschen, aber tat-
sächlich müsste man das Arbeitszeitproblem auch
lösen, wenn es keine EU gäbe. Es ist ein reales Pro-
blem, keine rechtliche Feinheit.
Politik und Dienstgeber sollen also bitte das Schrei-
ben aus Brüssel nicht als Einmischung in innere
Angelegenheiten, sondern als hilfreichen Weckruf
nehmen. Derzeit geistern Horrorzahlen durch Ös-
terreich, wie viele zusätzliche Ärztinnen und Ärzte,
die es nicht gibt und die man sich nicht leisten kann
(oder will), nötig wären, um die Arbeitszeit zu redu-
zieren. Aber das sind eher Abschreckungsstrategien,
das ist keine Problemlösung.
ÄrztInnen, die nicht mehr in die Spitäler gehen wol-
len, ÄrztInnen, die in Länder mit besseren Arbeits-
bedingungen und höherer Bezahlung abwandern,
das ist Realität. Und hier ist jedenfalls etwas zu
tun – und zwar rasch. Wir denken, EU-konforme
Arbeitsbedingungen für Ärztinnen und Ärzte sind
möglich. Dieser Prozess ist sicher nicht ganz ein-
fach. Aber mit gutemWillen auf allen Seiten und
bei gemeinsamem Vorgehen wird er gelingen. Und
dann werden Ärztinnen und Ärzte wieder lieber
und besser (für sich selbst und die PatientInnen) in
den heimischen Spitälern arbeiten. Wir werden es
uns auch leisten können.
Schwierig, wenn man nur Gründe sucht, warum
es nicht geht. Und wenn man weiter versucht, sich
irgendwie durchzuwinden. Sicher: Alles muss ju-
ristisch korrekt sein. Aber Ärztinnen wissen, wie
man Lösungen findet, die in den Abteilungen funk-
tionieren.
Vizepräsident Dr. Martin Wehrschütz
ist Obmann der Kurie Angestellte Ärzte.
intra
Weiterer Kurienbericht ab Seite 34.
Martin Wehrschütz
Lösungen finden,
nicht verhindern
kont a
Die Debatte um Gerechtigkeit im Gesundheitssystem
entzündet sich zumeist an der Verteilung knapper Res-
sourcen, an der Frage nach dem Zugang zu teuren Ap-
paraturen oder den besseren Behandlungsbedingungen
durch eine private Krankenversicherung.
Sicher – der Gesundheitszustand eines Menschen ent-
scheidet sich im Ernstfall am Zugang zu medizinischer
Versorgung. Aber nicht nur. Es ist inzwischen durch
Studien mehrfach erwiesen, dass sozioökonomische
Bedingungen wesentlich die Gesundheit beeinflussen.
Kurz gesagt: Armut macht krank. In einem Land, in
dem fast 20 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet
sind (lt. Statistik Austria), sollten alle Verantwort-
lichen im Gesundheitsbereich eher heute als morgen
handeln.
Das erhöhte Gesundheitsrisiko armer Menschen ergibt
sich aus verschiedenen Faktoren: Gesunde Ernährung
ist in der Regel teurer; die Wohnverhältnisse sind zu-
meist prekär; ständige Angst vor Jobverlust verursacht
Stress; Gesundheitsprävention kostet Geld. Im Anlass-
fall sind auch Therapien, die nicht von der Kasse be-
zahlt werden, nicht finanzierbar. Gerade im ländlichen
Raum kommt noch dazu, dass arme Menschen weniger
mobil sind. Wenn gerade kein Arzt im eigenen Ort nie-
dergelassen ist, werden Vorsorgeuntersuchungen oder
sogar der Arztbesuch im Krankheitsfall unmöglich.
Man wird nicht alle angeführten Faktoren mit gesund-
heitspolitischen Maßnahmen beseitigen können. Aber
bei 1,5 Millionen betroffenen Personen verwundert
es doch, dass in der gesundheitspolitischen Debatte
diese Menschen komplett ignoriert werden. Besonders
dramatisch daran ist die Tatsache, dass ein nicht unbe-
trächtlicher Teil dieser Betroffenen Kinder sind. Hier
müssten Familien- und Gesundheitspolitik Hand in
Hand an einer Verbesserung arbeiten.
Angesichts dieser Tatsachen – aber auch dem Umstand,
dass es selbst in Österreich Menschen gibt, die auf-
grund ihrer Armut gar nicht krankenversichert sind –
muss konstatiert werden, dass wir von einem gerechten
Gesundheitssystem noch weit entfernt sind.
Dr. Gerald Heschl ist Historiker und Chefredakteur der
katholischen Kärntner Kirchenzeitung „Sonntag“.
Gerald Heschl
Wie (un)gerecht ist unser
Gesundheitssystem?
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Steiermark
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