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„Die Themen finden mich“

Melitta Breznik, in der Schweiz tätige Psychiaterin mit steirischen Wurzeln, hat kürzlich ihr sechstes Buch veröffentlicht. In „ Mutter. Chronik eines Abschieds “ verwebt sie reale Erfahrungen aus der Begleitung der sterbenden Mutter mit fiktionalen Elementen zu einem umgarnenden Text.

Ursula Scholz

Nur einige Wochen erzählte Zeit umfasst Melitta Brezniks Buch Mutter. Chronik eines Abschieds. Wochen, die Breznik selbst erlebt hat, dann literarisch angereichert und mit rund zehn Jahren Abstand zum realen Tod der Mutter im Luchterhand-Verlag veröffentlicht. Ein nahegehendes Werk über eine Lebensphase, in der die Rollen als Tochter, Ärztin und zumeist alleinige Pflegerin der Moribunden einerseits verschmelzen und sich andererseits aneinander reiben. Wieviel Ärztin muss die Tochter sein, wenn sie um den Flüssigkeitsbedarf der Mutter weiß, aber keinen Schmerz durch Anlegen einer Infusion verursachen möchte? „Eine Tochter mit anderem beruflichen Hintergrund kommt nicht in diesen Entscheidungsnotstand, weil sie keine Infusionen setzen kann. Sie streitet möglicherweise mit der Ärztin, wieviel Intervention unbedingt nötig ist“, sagt Breznik, die diesen Streit mit sich selbst ausmachen musste.

„Vernünftiger Beruf“

Mit sich selbst ausmachen musste die 1961 Geborene auch ihre berufliche Richtungsentscheidung. Für das Arbeiterkind, geboren und aufgewachsen in Kapfenberg, war das Medizinstudium kein vorgezeichneter Weg. „Aber ich wollte schon ziemlich früh Ärztin werden“, erzählt Breznik. „In der Familie gab es immer wieder Schwerkranke: meinen Bruder, der mit 18 an einem Hirntumor gestorben ist, als ich vier Jahre alt war, und meine Großmutter, die in der Psychiatrie den Euthanasietod gestorben ist. Ich wollte einen vernünftigen Beruf ergreifen und Menschen in derartigen Situationen helfen.“ Ihre Mutter tat alles, um sie vor dem anstrengenden Arbeitsleben als Ärztin zu bewahren; beirren konnte sie die Tochter nicht.

Nach zahlreichen beruflichen Stationen – vom Studium in Graz und Innsbruck, der Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin über die Facharztausbildung für Psychiatrie in Solothurn und Zürich, diversen Anstellungen in Kliniken bis hin zu fünf Jahren als niedergelassene Psychiaterin in Chur – ist sie nun als Leitende Ärztin in der psychosomatisch orientierten Clinica Curativa in Scuol im Unterengadin tätig. Neben der medizinischen Ausbildung vertiefte sie ihr Wissen mit diversen therapeutischen Fachrichtungen; derzeit liegt ihr Fokus auf EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) zur Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen. „Aber ich bin eine Methodenpragmatikerin. Ich wende das Verfahren an, das der Patient gerade braucht.“

Naturbasierte Therapien

Schon als Studentin hat es sie in die Berge gezogen – und auch der Hunger nach neuen Erfahrungen war groß –, woraufhin sie den Studienort wechselte und in Innsbruck fertigstudierte. Nun ist sie wieder in den Bergen gelandet. Naturbasierte Therapien sollen im Mittelpunkt ihres vermutlich nächsten Buches stehen, das sie zusammen mit einer Umweltpsychologin verfasst. „Es basiert auf einer Untersuchungsreihe darüber, wie Naturerfahrungen der Kindheit später als Ressource genutzt werden können.“ Durch die literarische Arbeit an „Mutter“ und die Mitbegründung der Clinica Curativa in Scuol war es Breznik bisher noch nicht möglich gewesen, das seit Jahren im Kopf kreisende Buch auch zu Papier zu bringen; jetzt steht es ganz oben auf ihrer Agenda.

Und das nächste literarische Werk? Das müsse sie erst „kommen lassen“. „Die Themen suchen mich und finden mich“, erklärt sie. „Ein Thema muss mich richtig anspringen, damit es sich lohnt, die entsprechende Zeit zu investieren.“ Denn gerade daran mangelt es Breznik. „Vorrang hat immer mein Alltag als Medizinerin“, stellt sie klar. „Ich bin mit Leib und Seele Ärztin und Therapeutin.“ Zeit fürs Schreiben findet sie am Wochenende, an freien Tagen oder in den Ferien – und im Freiraum zwischen zwei Jobs. Zudem steht sie meist um fünf in der Früh auf, um sich noch vor der Arbeit in ihren Text zu vertiefen. „Ich habe immer eine Ausdrucksform gesucht, zunächst gemalt, dann Musik gemacht. Letztendlich bin ich auf das Wort gekommen.“

Kultur in der Klinik

Auch als Ärztin setzt sie auf die Kraft des Wortes: „Ich bin jetzt in jener Ecke der Medizin gelandet, wo das Benennen heilt“, so Breznik. Heilen – oder zumindest lindern – durch Benennen findet sich zudem in ihrer Literatur. Dabei macht sie auch vor der Familienhistorie nicht halt, wie beispielsweise ihre Romane Nachtdienst (über den Tod des Vaters) und Das Umstellformat (die Aufarbeitung des Euthanasietods ihrer Großmutter) zeigen. Breznik schreibt nicht nur selbst regelmäßig Tagebuch, sondern motiviert auch ihre Patientinnen und Patienten dazu, sich verbal auszudrücken. „Literatur ist wichtig als Orientierung“, lautet ihr Credo.

Von der Bedeutung der Kultur als heilender Kraft überzeugt, aber auch von der Idee, dass gerade Ärztinnen und Ärzte durch die Auseinandersetzung mit fremden Lebensentwürfen ihre empathischen Fähigkeiten ausbauen können, engagierte sie sich bei der Gründung einer Veranstaltungsreihe namens „ Leben & Schreiben“. Seit dem Jahr 2013 finden abwechselnd im Literaturhaus Basel und in jener Klinik in Schützen, in der Breznik selbst tätig war, Lesungen mit anschließenden Podiums- und Publikumsdiskussionen statt. Sämtliche dort präsentierten Bücher setzen sich auf ihre Weise mit dem Thema Kranksein auseinander. „Ich finde die Verflechtung von Medizin und Literatur einfach interessant.“

Beistehen beim Sterben

„Das Leben braucht das Sterben!“, ist sie überzeugt. Und so war es auch erklärtes Ziel des Werkes „Mutter“, „den Tod wieder ins Leben zurückzuholen“. Gerne würde sie, die in Scuol auch Teil des Palliativteams ist, möglichst viele Angehörige dazu motivieren, den ihnen nahestehenden Sterbenden auch buchstäblich nahe zu bleiben. Regelmäßig Zeit in ihrer Nähe zu verbringen, ihre Hand zu halten und mit ihnen zu sprechen, selbst wenn sie nicht mehr anwesend zu sein scheinen. Wie sie es bei ihrer Mutter getan hat.

Dass einige Rezensenten „Mutter. Chronik eines Abschieds“ eins zu eins autobiographisch interpretierten, ohne die Fiktionalität gewisser Elemente in Erwägung zu ziehen, nimmt sie gelassen. „Rezensenten haben so ihre eigene Wahrnehmung. Und ich habe keine Mühe damit, mich selber als Projektionsfläche zur Verfügung zu stellen. Ich bin zufrieden mit dem, was das Buch bei den meisten Lesern auslöst.“ Anfangs habe auch sie gezögert, ein so persönliches Thema literarisch zu verwerten und zunächst mit niemandem über ihr Vorhaben gesprochen. Schließlich weihte sie ihren Partner und den noch lebenden Bruder ein, der das Manuskript auch vorab zu lesen bekam. Schließlich ist auch er Teil der Handlung.

Preisgekrönt

Der Bruder, meint Breznik, könne gut damit umgehen, mit einer literarischen Figur zu verschmelzen und wahre eine gesunde Distanz zu seinem fiktionalen Pendant. Stolz hat er seiner Schwester berichtet, dass ihr neues Buch auf der ORF-Bestenliste auf Platz 1 rangiert. Diese Platzierung ist nicht die einzige Würdigung; Brezniks literarisches Œuvre wird hochgeschätzt. Obwohl sie schon seit 1993 schreibt und erst sechs Bücher veröffentlicht hat – alle bei Luchterhand –, wurden ihr bereits einige Literaturpreise verliehen. 2018 beispielsweise erhielt sie den Bündner Literaturpreis und heuer den ProLitteris-Preis für Literatur, der coronabedingt nicht persönlich übergeben werden konnte. Als Empfängerin des Hauptpreises durfte sie den Gewinner des Förderpreises bestimmen und wählte mit Janosch Steuwer einen in Zürich tätigen Historiker, der wie sie selbst Quellen aus der NS-Zeit aufarbeitet.

Zurück zur Mechanik

Während Melitta Breznik ihre ersten Bücher noch auf der mechanischen Schreibmaschine getippt hat, verwendet sie mittlerweile zur besseren Handhabbarkeit der Textmengen den Computer. Die Notizen, die sie sich während der Entstehungsphase macht, werden jedoch weiterhin konsequent mit Füllfeder zu Papier gebracht. In der Pension, erzählt sie, wenn sie wieder mehr Zeit haben werde, könne sie sich vorstellen, zur Schreibmaschine zurückzukehren. Eine private Sammlung von Reiseschreibmaschinen wartet schon darauf, ihre behutsam formulierten Sätze für die Leserschaft zu konservieren.

AERZTE Steiermark 07-08/2020
 

Fotos: Mayk Wendt, Luchterhand




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