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Zur Pandemie.

Von einem Berufswarner, der wider Willen recht behielt.

Alfred Gränz

 

2006 – grippekranke Vögel waren auch in der Steiermark verendet – schrieben wir in der Landessanitätsdirektion gerade unseren steirischen Pandemieplan und begannen, Filterschutzmasken und das vom Pharmariesen Roche erzeugte Tamiflu in Großgebinden einzulagern.


Gelästerte Rufer in der Wüste

Als dann die Mensch-zu-Mensch-Übertragung Gott sei Dank ausblieb, hatten wir Jahre lang Häme zu ertragen und auch die damalige Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat wurde schwer kritisiert. Immerhin: VertreterInnen der großen Einsatzorganisationen, leitende ÄrztInnen und Pflegekräfte, Schulbehörden und auch das Management von Unternehmen der sogenannten kritischen Infrastruktur beteiligten sich an den Arbeiten und es gab auch einen guten Übungseffekt.

Die Ablauforganisation wurde von der Sanitätsdirektion mit der Landeswarnzentrale über die Bezirkshauptmannschaften bis hin zu den niedergelassen ÄrztInnen, den Pflegeeinrichtungen, den psychosozialen Diensten und den Behinderteneinrichtungen bis zu den Wachdiensten der Exekutive (z. B. vor Apotheken) partizipatorisch erarbeitet. Einige größere Industriebetriebe ließen sich auch für ihre internen Schutzpläne beraten.


Realfall: Zwischen Panikmachern und Bagatellisierern?

Derzeit ist es auch ohne „Fake-News“, politisch-ideologische Trittbrettfahrer oder feuilletonistische Ergüsse nicht leicht, aus der Unmenge von Nachrichten, Podcasts, Talks, Videokonferenzen, Dashboards und Studien-Vorabveröffentlichungen eine Orientierung zu gewinnen, die von wissenschaftlicher Redlichkeit und humanistisch-demokratischen Grundsätzen geleitet ist.

Infolge der ungeheuren Dynamik und Komplexität des Geschehens, das auch einem gesellschaftlich sozialen Versuchslabor gleichkommt,  muss eine Beurteilung bewusst vorläufig fragmentarisch bleiben. Ich möchte sie aber dennoch versuchen, und zwar aus einem fachlichen Hintergrund, der von Public Health über Hygiene, Epidemiologie bis zu Gesundheitsökonomie, Medizinsoziologie und -ethik reicht.


Versäumnisse?

Leider gibt es sie. Wir hatten aber insoweit Glück, als uns München und die Lombardei zwei Wochen voraus waren und dass wir „zu viele“ Spitalsbetten haben. Doch Schutzausrüstungen und Labortest-Kits hätten wir koordiniert früher bestellen müssen. Voraussetzung auch dafür wäre ein noch früheres In-Gang-Bringen der internen Kommunikationswege zwecks Bedarfs- und laufender Datenerhebung gewesen.

Die Niedergelassenen ÄrztInnen an vorderster Front konnten dadurch lange nicht annähernd adäquat mit Schutzmaterial versorgt werden. In Zusammenhang mit dem diesbezüglichen Ressourcenmangel sei auch die Frage gestattet, warum der Fokus der Aufmerksamkeit erst seit Mitte April auf Altenpflegeheimen liegt. Die Deutschen waren offenbar auch nicht besser vorbereitet, obwohl sie einen sogar auf ein mutiertes SARS-Virus zugeschneiderten Plan des Robert-Koch-Instituts in der Lade hatten. Als krisenerfahren – und dementsprechend einflussreich – erscheint das Rote Kreuz.

Die Krisenkommunikation der Bundesregierung halte ich bislang (28.4.) für überwiegend gut gelungen. Die Argumentation im Zuge der Lockerung der Maßnahmen wird aber eine noch viel größere Herausforderung darstellen. Und: Der zurückgezogene „Ostererlass“ samt Erklärung (Ende April), private Treffen im Familien- und Freundeskreis wären ohnedies erlaubt gewesen, erscheinen jedenfalls wenig geeignet, das Vertrauen in die angekündigte „faktenbasierte”, stufenweise datenkontrollierte Vorgangsweise anhaltend und ausreichend aufrechtzuerhalten.

Auf internationale Verflechtungen, Abhängigkeiten und die Performance der EU möchte ich hier nicht eingehen. Aus fachlicher Sicht ist aber sehr wohl positiv anzumerken, dass unter den WissenschaftlerInnen absolut „open source“ verkehrt wird, China die Gensequenz des neuen Virus rasch bekannt gemacht hat und zurecht auf „Vorbildländer“ wie Südkorea, Taiwan und Singapur geschaut wird. M. E. lohnt das auch soziokulturell, was aber Kritik unsrerseits in Richtung Grundrechte keineswegs ausschließen soll.


Ad Diagnostik, Impfstoff & Therapie

Dass das neue Virus aus dem Labor gekommen sei, ist auch als Unfall wenig wahrscheinlich, und für eine Biowaffe hätte man wohl einen auch für Jugendliche bzw. junge Menschen gefährlicheren Stamm gewählt. Für jemand, der das weltweite Infektionsgeschehen seit Jahrzehnten beobachtet, sind – grob skizziert – Ursprung von Wildtieren und Anpassung an den Menschen über Nahrung und Übertragung auf Märkten durchaus bekannte Wege. Da es aber nicht unbedingt auf diesem einen genannten Markt losgegangen sein muss, sondern auch schon länger in der dortigen Bevölkerung zirkuliert sein kann, ist der Ursprung noch nicht geklärt.

Plötzlicher Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn und typisches Lungen-CT gehören inzwischen zu den fixen Diagnosekriterien. Gegen Ende einer vorerst harmlos verlaufenden 1. Krankheitswoche kann es zu schwerer Atemnot kommen, welche subjektiv oft gar nicht als solche wahrgenommen und die Einweisungsbedürftigkeit per Pulsoximeter festgestellt wird. Ein Innsbrucker Intensiv- und Tauchmediziner hat bei Nachuntersuchungen noch Wochen anhaltende Lungenveränderungen und Leistungseinbußen beschrieben.

Bei der Therapie mit schon vorhandenen Medikamenten scheint nur noch Remdesivir im Rennen zu sein, aber auch hier gibt es bereits einen Dämpfer. Vielleicht wurde es als Virostatikum in der Studie aber auch erst eingesetzt, als bei ARDS/Zytokinsturm die Hyperimmunreaktion das Geschehen bestimmt hat. Auf den 2. Blick als Hypothese nicht so abwegig wäre ein Erfolg mit Nikotin-Pflastern, was natürlich an der Raucher-COPD als Risikofaktor nichts ändert.

Von einer wenigstens einige Jahre schützenden Immunität darf man schon ausgehen. Jüngste Berichte über Reinfektionen Genesener sind labor- und probenahmetechnisch erklärbar. Manchmal noch tief aus der Lunge ausgehustete Viruspartikel sind zwar mit der PCR nachweisbar, aber keineswegs mehr infektiös, genauso wenig wie jene aus dem Stuhl (das kann man sich übrigens durch Untersuchungen städtischer Abwässer zum Überwachen regionaler Infektionsherde zunutze machen).

Die Nicht-Weiterentwicklung von Impfstoffen bei SARS I und MERS geht eher auf Versiegen der Finanzen zurück als auf mangelnde Erfolgsaussichten. Aber: Wir können die damaligen Erfahrungen nicht nur technisch, sondern sogar als quasi molekularbiologisches Grundgerüst nun gut nutzen. Eine Notfalltherapie aus „Rekonvaleszentenserum“ (Genesene spenden Plasma) wurde in der Steiermark – allerdings bei einem sonst wahrscheinlich unbeherrschbaren Notfall – bereits experimentell, aber erfreulicherweise eben erfolgreich, eingesetzt. Im Ernstfall entscheidend bleibt leider nach wie vor die intensivmedizinische Ausstattung und Kompetenz.


Zahlen & ExpertInnen

Die FachexpertInnen sitzen im Beraterstab; die strategischen Entscheidungen treffen MinisterInnen und Kanzler, im organisatorischen Ablauf der Krisenstab. Die fachlichen Einschätzungen fußen neben Erfahrungen aus dem Ausland und ersten Tagungs- und Studienergebnissen wesentlich auf den eigenen, möglichst prompt und zuverlässig erhobenen Daten. Von Anfang war von einer hohen Ansteckungsfähigkeit und Übertragung durch auch viele asymptomatische infizierte Personen auszugehen. Diese beginnt also 2–2 ½ Tage vor den mehr oder weniger typischen und unbemerkten bis ausgeprägten Symptomen. Somit war die Standard-Containment-Strategie allein zur Unterbrechung der Infektionsketten nicht ausreichend. Das heißt, nach positivem Test bei schon mindestens 38,5° C Temperatur konnten die engen Kontaktpersonen oftmals erst erreicht und auch isoliert werden, wenn sie schon wieder andere angesteckt hatten.

Auch freiwillige Heimquarantänen nach Heimkehr aus sog. Risikogebieten, Veranstaltungsverbote, lokale Absperrungen wie in Tirol usw. waren zu wenig und die Zahl positiv Getesteter stieg exponentiell an.

So musste man schließlich anhand „harter“ Zahlen wie Spitalsbedürftigkeit und Intensivbettenbelegung bis zu den jetzt geltenden Lockdown-Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und dem sog. Social Distancing gehen. Die anschauliche Kurve verflachte und bog nach unten, der sog. Reproduktions- oder Replikationsfaktor fiel gegen bis 0,63. Inzwischen übersteigt die Zahl der Gesundeten trotz (endlich) steigender Testungen deutlich die Zahl der Neuerkrankungen.

Unser Beobachtungs- und Prognosemodell arbeitet aber immer noch mit (zu) vielen nur relativen Zahlen und Schätzungen. Der Bezug auf die Anzahl der Getesteten ist auch im Ländervergleich zu beachten; das Bild wird sich merkbar verändern, wenn mehr und regelmäßig auch in den besonders ansteckungsgefährdeten Berufs- und Risikogruppen wie VerkäuferInnen, Pflegepersonal und HeimbewohnerInnen getestet werden wird. Erst dann kann man langsam auch die Dunkelziffer etwas realistischer einschätzen. Eine erste Querschnittsstudie zur Durchseuchung in Österreich ergab lediglich 0,33 %.

Bei gezielten Tests in den o. g. Gruppen sind aber auch Zahlen > 10 % zu erwarten. Ebenso in den bekannten geografischen Hot Spots mit den teilweise rekonstruierten Infektionsketten.

Die dafür ab Verfügbarkeit validierter Produkte eingesetzten Antikörpertests werden in diesen Clustern noch höhere Prozentzahlen zeigen. Von einer Herdenimmunität in der Gesamtbevölkerung wird leider noch lange keine Rede sein. Aber für die Einsetzbarkeit von Gesundheits- und Pflegepersonal oder PädagogInnen und SozialarbeiterInnen wären diese Tests freilich sehr gut nutzbar.

Aus den genannten Unterschieden wird aber ebenso klar, dass die Komplikations- und Mortalitätsraten noch nicht endgültig errechnet werden können. Außer Diskussion steht inzwischen wohl, dass Vergleiche mit saisonaler Grippe in Sachen Fallsterblichkeit bzw. saisonaler Übersterblichkeit obsolet geworden sind.


„Kollateralschäden“, Risikoabwägung

Im Gesundheitssystem selbst kann man sich auf längere Zeit auch nicht ausschließlich auf die Pandemiebekämpfung fokussieren. Allein in der Regelversorgung und längerfristig auch in den Reha- und Vorsorgeprogrammen sind Risken und Folgeschäden „gegenzurechnen“. Als Indiz dafür zeichnet sich bereits ab, dass Kardiologen derzeit sozusagen gemieden zu werden scheinen. Und aus aufgeschobenen Mutter-Kind-Pass- bis Krebs-Vorsorgeuntersuchungen und natürlich unterbliebenen Impfungen können ja auch durchaus bleibende Schäden und „Verlorene gesunde Lebensjahre“ resultieren. Auch der psychosoziale Bereich mit Arbeitslosigkeit, Armutsgefährdung, Zurückbleiben in der Bildung und bei der Integration und Inklusion von Randgruppen fallen ethisch schwer ins Gewicht. Auch hier bedarf es der Begleitforschung und es müssen mehr Betreuungsressourcen aufgestockt werden.


Lockerung, Perspektiven

Ich habe schon gelesen, das „Fahren auf Sicht“ sei ein Eingeständnis von Nichtwissen. Aber wir sind keine Rallyepiloten auf freigeräumter Strecke und Beifahrer mit Protokoll und Mikrophon. Ist es nicht vielmehr ein eindeutiges Gebot zur Verkehrssicherheit „auf Sicht zu fahren“ und lernen wir nicht gerade jetzt, noch mehr Rücksicht auf schwächere „Verkehrs“-TeilnehmerInnen zu nehmen?

Verschiedene Länder versuchen unterschiedliche Strategien und setzen unterschiedliche Prioritäten: Schwedens liberal eigenverantwortlicher Weg mag – begünstigt auch durch Topografie und Mentalität – auf lange Sicht vielleicht gar keine höhere Sterblichkeit als bei uns oder in Deutschland nach sich ziehen. Man wird vergleichen können. Die ethische Entscheidung fällt aber jetzt und heute und für jede/n potentielle/n PatientIn der kommenden Wochen.

Die Lockerung kann nur stufenweise, feindosiert und datenkontrolliert gelingen. Mit Rückschlägen ist eher zu rechnen als mit baldigen wissenschaftlichen Durchbrüchen. Ein mühsamer ständiger Lernprozess steht noch für längere Zeit ins Haus. Infektionswellen könnten noch bis zu 18 Monate andauern.

Viel Fantasie in Sachen Infektionsabwehr wird noch in diversen Produktions- und noch mehr in Dienstleistungsbetrieben mit obligater körperlicher Nähe nötig sein. Für den Sport entstehen diese Hygiene-Regeln gerade. Für etliche Länder stehen die Schulen „öffnungstechnisch“ ganz oben. Bei Kleinkindern werden Kleingruppen, Unterricht im Freien und schon gar nicht MNS-Masken wirksam helfen können (zumindest das Personal in diesem Bereich könnte man regelmäßig testen).

Die Vorsicht bei den Schulkindern beruht auf den Influenza-Erfahrungen. Könnten Untersuchungen belegen, dass Kinder nicht nur kaum ernstlich erkranken, sondern auch keine große Rolle als asymptomatische Überträger spielen, wären wir mit  einem Schlag sprichwörtlich „Sorgenkinder“ los. Großeltern könnten sich freuen und alle anderen aufatmen.

Entscheidend für einen anhaltenden Erfolg dieser Phase 2 werden gezielte Testungen und das Gelingen einer rascheren Kontaktpersonenidentifizierung sein, sodass die Infektionsketten rasch „eingefangen“ werden können und ggf. nur noch für einzelne Einrichtungen und Orte befristete strenge Quarantänemaßnahmen angeordnet werden müssen.

Die freiwillige Verwendung einer sogenannten Contact-Tracing-App durch eine möglichst große Anzahl mobiler, technik­affiner Personen mag dabei eine wertvolle Unterstützung sein. Nach zugesagter Offenlegung des Programm-Codes erscheinen die sicherheitstechnischen und datenschutzrechtlichen Bedenken bzw. Vorbehalte hinsichtlich Anonymität und Bewegungsprofilspeicherung ausräumbar bzw. überwindbar.

Soweit die Betrachtung aus infektiologischer Public-Health- und persönlicher Sicht eines Angehörigen der Risikogruppe, welchen privat selbstverständlich noch vielerlei andere Sorgen, Wünsche, Hoffnungen und Träume bewegen.
 

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OSR Dr. Alfred Gränz ist Facharzt f. Hygiene und Stv. Landessanitätsdirektor der Steiermark i.R.

AERZTE Steiermark 05/2020




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