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„Strenggenommen kann es nur eine Medizin geben – eine wirksame“

Zum Disput über die Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit medizinischer Angebote. Warum wir nach Möglichkeit den Dialog nicht aufgeben sollten.

Herwig Lindner

Die Medizin wird immer erfolgreicher. Das ist eine Binsenweisheit. 1960 lag die durchschnittliche Lebenserwartung weltweit bei 52,6 Jahren, 2017 bei 72,4 Jahren, in Österreich betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 1960 68,6 Jahre, im Jahr 2017 81,6 Jahre. Wir wissen natürlich, dass sich die Medizin diese Entwicklung nicht allein auf ihre Fahnen heften kann. Sie hat auch viel mit besseren Umweltbedingungen zu tun. Aber etwa bei der Senkung der Säuglingssterblichkeit leistet die Medizin einen entscheidenden Beitrag – und 1960 starben in Österreich 35,4 je 1.000 Lebendgeborene (einschließlich Totgeburten), 2017 nur mehr 4,9.

Umso erstaunlicher mutet es auf den ersten Blick an, dass viele Menschen die medizinische Wissenschaft verweigern, zum Beispiel das Impfen ablehnen und sich esoterischen Angeboten zuwenden. Auf den zweiten Blick ist es weniger erstaunlich: Die wissenschaftlich geprägte Medizin ist dazu angehalten, über mögliche Risiken umfassend aufzuklären. Das macht Angst. Gleichzeitig steht sie unter immensem wirtschaftlichem Druck. Die Zeit für die einzelne Patientin, den einzelnen Patienten wird deswegen immer knapper. „Alternative Anbieter“, die privat bezahlt werden, können etwas bieten, das vielen offenbar wichtiger ist als medizinische Leistungsfähigkeit allein: Zeit und damit Zuwendung. Währenddessen sinkt die Angst vor Krankheiten – weil viele immer seltener als tödlich erfahren werden.

Debatte über Erstattungsverbot

Gleichzeitig steigt aber die politische Skepsis gegenüber medizinischen Angeboten, die nicht als evidenzbasiert betrachtet werden. In Deutschland gibt es eine breite Debatte über ein „Erstattungsverbot“ der Krankenkassen für homöopathische Leistungen. Vor einigen Jahren haben alle deutschen Parlamentsparteien die Erstattung der Homöopathie als freiwillige Kassenleistung begrüßt, mittlerweile gibt es Uneinigkeit. Eine Grün-Politikerin und Ärztin wird in der TAZ mit dem Satz zitiert: „Wir Grüne verweisen stets auf die Wissenschaft, wenn es gegen Klimaleugner geht – deshalb müssen wir uns auch anderswo klar gegen Esoterik und Wissenschaftsfeindlichkeit positionieren.“ Andererseits, so die TAZ, würden viele Grün-WählerInnen und -Mitglieder auf Globuli und Co. „als sanfte Alternative zur klassischen Schulmedizin“ schwören. Mittlerweile haben sich Gegner und Befürworter unter den deutschen Grünen auf eine „österreichische Lösung“ verständigt: die Bildung einer wissenschaftlichen Kommission.

Der Ton wird rauer

Wobei die Lösung nicht gar so österreichisch ist. Denn (auch) hierzulande wird der Ton zunehmend rauer: Ein kritischer Online-Journalist bezeichnete die kleine Fortbildungsveranstaltung „Komplementärmedizin in der Gynäkologie“ des Komplementärmedizin-Referats der Ärztekammer Steiermark vorweg als „Voodoo-Talk“. Der Forderung, wir sollten eine klare Grenze zwischen Scharlatanerie und seriöser Medizin ziehen, wird wohl kaum jemand widersprechen. Aber auf die Frage, wo genau diese Grenze verlaufen sollte, gibt es sehr viele, sehr unterschiedliche Antworten. Denn leider ist der „Golden Standard“ der Evidenzbasiertheit keine statische Grenze. Was gestern noch „state of the art“ war, kann morgen schon obsolet sein (wie Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Grazer Fortbildungstage jedes Jahr von neuem feststellen, wenn sie die Reihe „Was ist gesichert, was ist obsolet?“ besuchen).

Respekt und Dialog

Wir sollten uns also nicht allzu sehr auf die Gewissheit verlassen, sondern sie mit Respekt und Erhalt des Dialogs kombinieren. Der Dermatologe Theodor Much, ehemaliger Leiter der Hautambulanz am Wiener Hanusch-Krankenhaus, ist bekennender Skeptiker, Gegner des Irrationalen und einschlägiger Buchautor („ Der große Bluff: Irrwege und Lügen der Alternativmedizin“). In der Neuen Zürcher Zeitung hat er aber geschrieben: „Als vor rund 20 Jahren einige junge Kollegen, die sich an meiner Krankenhausabteilung für Dermatologie in Ausbildung befanden, von den Wundern der Homöopathie schwärmten, suchte ich im Glauben an all die wohlklingenden Versprechen die Zusammenarbeit mit Homöopathen bei der Therapie von verschiedenen Hauterkrankungen. Ich besuchte – auch in eigener Sache – diverse Alternativmediziner und belegte sogar einen Homöopathiekurs.“ Die Auseinandersetzung mit einem augenscheinlichen Randbereich der Medizin kann zur Ablehnung führen oder diese verstärken. Im Fall des Kollegen Much war das offenbar auch so.

Aber egal, ob Zustimmung oder Ablehnung: Medizin braucht Information und Wissen als Grundlage. Sie braucht die Auseinandersetzung auf der Sachebene. Das sind wir uns als akademisch ausgebildete Ärztinnen und Ärzte schuldig. Das sind wir unseren Patientinnen und Patienten schuldig.

Ausgrenzung unethisch

Die Ausgrenzung der so genannten „Komplementärmedizin“ halte ich deswegen für unethisch. Nur wenn sich eine Disziplin dem Diskurs entzieht und das auch noch mit Allmachtphantasien kombiniert (echte Scharlatane tun das zumeist), wird dem Dialog die Grundlage entzogen. Dann kann es ihn auch nicht geben.

„Ich bevorzuge eine demütige Einstellung …“

Albert Einstein hat nach eigenem Bekunden nicht an einen persönlichen Gott „geglaubt“. Er hat aber auch geschrieben: „Sie können mich einen Agnostiker nennen, aber ich teile nicht den Kampfgeist eines professionellen Atheisten … Ich bevorzuge eine demütige Einstellung, was die Schwäche unseres intellektuellen Verständnisses der Natur und unseres Wesens betrifft.“

Diese Demut steht uns gut an, ist es doch die Demut vor den Menschen, die wir therapieren.

Der streng wissenschaftlich ausgerichtete Much dazu: „… strenggenommen kann es nur eine Medizin geben – eine wirksame. Damit sind anerkannte Behandlungsverfahren gemeint, die dem Placebo überlegen sind; wobei alles, was sich bewährt, früher oder später auch Teil dieser etablierten Medizin wird.“

Medizinische Therapien müssen sich also bewähren – wir müssen ihnen aber auch die Zeit und den Raum dafür geben.

Herwig Lindner ist Facharzt für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Infektiologie, Präsident der Ärztekammer Steiermark und Leiter des Referats „Komplementärmedizin“ in der Österreichischen Ärztekammer.


AERZTE Steiermark 12/2019

Grafik: Navalnyi/Shutterstock, Foto: Oliver Wolf




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