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Primärversorgung: Einfache Antworten gibt es nicht

In der Gesundheitspolitik gibt es viele Wahrheiten und in gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen drohen sie alle auf der Strecke zu bleiben. Im jüngsten Konflikt um die Artikel-15a-Vereinbarung gab es vor allem ein Opfer: die Primärversorgung.

MARTIN NOVAK

Die politischen Entscheider suggerierten, dass die Primärversorgung für Österreich gleichsam neu erfunden werden müsse, und dies sei nur mit Primärversorgungszentren möglich.
Insbesondere niedergelassene Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin betrachten das vielfach als Schlag in ihr Gesicht: Sie betreiben in der eigenen Wahrnehmung Primärversorgung in großem Umfang und verweisen darauf, dass sie auch mit anderen therapeutischen Berufen in der Betreuung ihrer Patientinnen und Patienten zusammenarbeiten. Und sie weisen darauf hin, dass sie zwei Vorteile auf ihrer Seite haben, die im Konzept von Primärversorgungszentren unterrepräsentiert sind: lange persönliche Beziehungen zu ihren PatientInnen samt familiärem Umfeld und eine Wohnortnähe, die Zentren nicht bieten können.

Niemand kann verlässlich ausschließen, nicht auch subjektive und ideologische Perspektiven in seine Beurteilung einzubringen. Im Wissen, dass absolute Objektivität praktisch nicht denkbar ist, haben wir abseits der politischen Debatte Stefan Korsatko, Allgemeinmediziner und Medical Director des Clinical Research Centers an der Medizinischen Universität Graz sowie 1. Bundessprecher des 2016 gegründeten Österreichischen Forums Primärversorgung (ÖFOP), gebeten, einen Blick auf die Lage der Primärversorgung in Österreich zu werfen. Er – und dafür danken wir ihm sehr herzlich – tut das im Rahmen einer Serie, die eine Reihe verfügbarer Indikatoren heranzieht und eine Reihe europäischer Länder vergleichend beschreibt: den skandinavischen Block mit Dänemark, Norwegen und Schweden, Österreichs Nachbarländer Deutschland, Schweiz und Slowenien sowie abschließend England, die Niederlande und Portugal. 

Eine Grundlage für seine Arbeit ist die Studie von Dionne Sofia Kringos, die 2012 „The strength of primary care in Europe“ ausführlich beforscht hat. Kringos bescheinigt Österreich gemeinsam mit Island, Irland, Luxemburg, der Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Malta und Griechenland einen niedrigen Level in der Primärversorgung. Einen hohen haben laut Kringos England, Spanien, Dänemark, die Niederlande und Slowenien. Die Studie nimmt vor allem den Organisationsgrad und die finanzielle Ausstattung der Primärversorgung in den Fokus.

In der politischen Debatte in Österreich quasi vorweggenommen wird die Annahme, dass Primärversorgung mit hohem Organisationsgrad positive Auswirkungen auf den Gesundheitszustand in einem Land hat. Ein (inhaltliches) Argument für den Reformbedarf des österreichischen Gesundheitssystems sind ja die im europäischen Vergleich geringen Werte an gesunden (beeinträchtigungsfreien) Lebensjahren (HLE).

Ob es zwischen gesunden Lebensjahren und einer Primärversorgung mit hohem Organisationsgrad tatsächlich einen ursächlichen Zusammenhang gibt, darf man allerdings in Frage stellen. Die fünf „besten“ Länder Europas sind bei Frauen Malta, Schweden, Schweiz, Irland und Island; bei Männern ändert sich die Reihenfolge wenig: Hier liegt Schweden vor Malta, dann folgen Norwegen, Island, Irland und Zypern. Vier der Top 6 haben also laut Kringos eine schwach organisierte Primärversorgung, zwei eine mittelmäßig  organisierte. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Vergleich zwischen dem Prozentsatz derer, die sich (sehr) gesund fühlen und der Primärversorgungsstruktur. Die ersten fünf Länder in diesem Ranking sind Schweden, Schweiz, Norwegen, Irland und die Niederlande. Drei mittel organisiert, eines schwach, eines stark. Ein ähnlich durchmischtes Bild zeigt sich am Ende der Tabelle. Am schlechtesten schneidet das stark organisierte Portugal ab. Fazit: Stark organisierte Primärversorgung ist keine Garantie, dass sich Menschen gesund fühlen.

Eine Randfrage – wenn auch eine interessante – ist in diesem Zusammenhang, warum in einigen Ländern Männer eine höhere Zahl gesunder Lebensjahre aufweisen. Sehr deutlich ist dieser Effekt in den Niederlanden, Island und der Schweiz, während in anderen Frauen bei den Healthy Life Years weit besser liegen – das gilt vor allem für Malta, Slowenien und Tschechien. Keine Abweichung zwischen den Geschlechtern gibt es in Schweden und Spanien, eine sehr geringfügige in Deutschland, Österreich, Zypern und Italien.

Nun sind die gesunden Lebensjahre ein subjektiver Wert. Daher lohnt sich auch der Blick auf die Lebenserwartung an sich. Hier führt Spanien, ein Land mit starker Primärversorgung, gefolgt von drei mit mittlerer (Schweiz, Italien, Frankreich) und eines mit schwacher Primärversorgung, nämlich Island. Unter den letzten drei Ländern nach Lebenserwartung liegen zwei mit starker Primärversorgung (Dänemark und die Tschechische Republik) sowie eines mit schwacher Primärversorgungsstruktur, die Slowakei. 

 

Kosten

Wenn es schon keinen offensichtlichen Zusammenhang zwischen den Grundwerten der Performance und dem Organisationsgrad der Primärversorgung gibt, stellt sich die Frage, ob sich eine stark organisierte Primärversorgung positiv bei den öffentlichen Gesundheitsausgaben niederschlägt. Laut EU-Statistik tut sie das aber offenbar nicht: Laut letztverfügbaren Werten haben Zypern, Malta und Irland den geringsten Prozent-Anteil der öffentlichen, inflationsbereinigten Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt. Alle drei Länder haben laut Kringos eine schwach organisierte Primärversorgung.

Bei den kaufkraftbereinigten Pro-Kopf-Kosten führt das stark organisierte Tschechien vor drei schwach organisierten Ländern – der Slowakei, Griechenland und Zypern. Unterm Strich heißt das: Der Organisationsgrad der Primärversorgung steht offenbar weder in Zusammenhang mit den Kosten noch mit den Grundwerten der Performance (Lebenserwartung, gesunde Lebensjahre, subjektiv empfundener Gesundheitszustand).

Eine objektive Performancemessung, die „beschreibt, wie gut ein System in der Lage ist, das zu leisten, was es soll“, indem es die Grade der Zielerreichung des Gesundheitssystems aufzeigt, steckt in Österreich noch in den Anfängen. Erste Arbeiten wurden im Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger 2013 begonnen. Laut Projektbericht aus dem Dezember 2016 befindet man sich im Stadium einer „unsystematischen Literaturrecherche“. Das „Ableiten von konkreten Maßnahmen“ ist noch nicht möglich.


Grafik, Fotos: Fotolia, MHH, Comstock




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