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Wo der Appell an die Vernunft nicht mehr hilft

Anorexia nervosa, Bulimia nervosa und Binge-Eating-Störung sind psychisch bedingte Essstörungen mit dramatischer gesundheitlicher Relevanz. Betroffen sind in erster Linie junge Mädchen und Frauen. Die Schaffung einer spezialisierten Einrichtung für PatientInnen mit einem BMI < 13 in der Steiermark ist dringend nötig.

T. Lahousen, D. Bayer, S. Wallner-Liebmann


200.000 Österreicher waren laut Gesundheitsministerium zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung erkrankt. Die Zahl der Erkrankten hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch erhöht: Innerhalb von 20 Jahren hat sich die Zahl der an Essstörungen erkrankten Personen mehr als verzehnfacht. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Essstörungen zählen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in den Industriestaaten. Die Anorexia nervosa ist in diesen Regionen auch die tödlichste psychische Krankheit. Das Inzidenzalter rückt ständig nach unten, sodass zunehmend bereits prä-pubertäre Kinder betroffen sind. Aber auch Erstmanifestationen im Erwachsenenalter werden immer häufiger.


Anorexie, Bulimie & Binge-Eating

Eine „harmlose Diät“ – wie sie von der Mehrzahl der jungen Mädchen/Frauen zumindest einmal im Leben praktiziert wird – steht oft am Anfang der Krankengeschichte einer Anorexia nervosa. Das kalorienreduzierende Essverhalten wird von der Umgebung zunächst meist belächelt. Die selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme wird jedoch nur initial durch quantitative Verminderung der Nahrungsaufnahme allein erreicht. Rasch entwickeln sich qualitative Einschränkungen: Fett und Kohlehydrate werden ver- bzw. gemieden; Gemüse, wenig Obst, viel Wasser oder kalorienfreie „Light-Getränke“ bestimmen den Speiseplan. Hinzu kommen Belohnungs- Bestrafungsrituale: „Erlaubte“ Nahrungsmittel dürfen erst nach körperlicher Betätigung gegessen werden. Die häufig sekundär einsetzende Obstipation wird durch exzessiv dosierte Laxantien selbst therapiert. Subjektiv empfinden sich die Betroffenen trotz extremen Untergewichts als „fett“ und „unförmig“. Das Zentrum der Dysmorphie wird fast immer zu Oberschenkeln und Abdomen projiziert. Eine objektive Erfassung ihres Äußeren ist den PatientInnen nicht möglich, die meisten können sich wegen Selbstekel sogar nicht selbst berühren. Der Umgebung spielen die Betroffenen gekonnt Theater vor: Lange Zeit hindurch gelingt es, bei Bedarf isoliert „Schau-Essen“ zu veranstalten, das Normalität suggeriert. Ist die Situation so weit fortgeschritten, finden die Patientinnen alleine keinen Weg mehr aus der Krankheit.
Die chronische Mangelernährung führt zu somatischen Störungen wie primärer bzw. sekundärer Amenorrhoe, Osteoporose, Haarausfall, Bradycardie, Hypotonie, Depigmentierung und Lanugobehaarung. Sekundär gesundheitsschädigende Verhaltensmuster (v. a. häufiges Erbrechen, Laxantien- und Diureticaabusus, körperliche Betätigung bis zur Erschöpfung, bewusste Kälteexposition) erzeugen zusätzliche gravierende, Komorbiditäten (Herzrhythmusstörungen, Risse in der Speiseröhre, hepatische und renale Funktionsstörungen, Leucopenie etc.).
Unter Anorexia athletica ist die gewollte Abnahme des Körpergewichtes bzw. des Körperfettanteils bei SportlerInnen zu verstehen. Ziel ist immer die Steigerung der sportlichen Leistungsfähigkeit. Die tägliche Energiezufuhr entspricht nicht dem Bedarf. Viele SportlerInnen glauben, dass sie mehr Erfolg haben, wenn sie schlanker sind. Der Übergang in eine Essstörung wie Anorexia oder Bulimia nervosa ist fließend. Die SportlerInnen befinden sich auf einer ständigen Gratwanderung zwischen noch normal und schon krank. Von dieser Form der Anorexie sind Burschen und junge Männer ebenfalls betroffen. Sportarten wie z. B. rhythmische Sportgymnastik, Geräteturnen oder Schispringen sind prädestiniert. Bulimie-Betroffene sind meist normalgewichtig, können aber auch unter- oder übergewichtig sein. Das typische Merkmal sind Heißhungerattacken, nach denen sogenannte gegenregulatorische Maßnahmen ergriffen werden, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden: selbstinduziertes Erbrechen, Hungern, extreme Diäten, exzessiver Sport, Missbrauch von Laxantien und Emetica. Die Binge-Eating-Störung (BES, vom engl. Binge = Gelage) ist eine Essstörung, bei der es zu periodischen Fressanfällen mit Verlust der bewussten Kontrolle über das Essverhalten kommt. Im Gegensatz zur Bulimie wird das Gegessene anschließend nicht erbrochen, so dass längerfristig meist Übergewicht folgt.


Abbruch, Ausstieg & Isolation

Im sozialen Kontext tritt infolge der ritualisierten Tagesabläufe und der Unfähigkeit zur Kommunikation im Rahmen gemeinsamen Essens häufig Isolation auf, die die Krankheitsdynamik weiter antreibt. Isolation gemeinsam mit dem Zusammenbruch der körperlichen Leistungsfähigkeit führt oft zum Abbruch von Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnissen. Die Betroffenen sind oft erst zu diesem Zeitpunkt bereit, therapeutische Hilfe anzunehmen.
Im therapeutischen Setting mit der Realität konfrontiert, zeigen sich die PatientInnen nicht selten anscheinend „einsichtig“, geloben Besserung, sind aber weder willens noch imstande, ihr Verhalten zu ändern. Verordnete Kontrollen mittels Waage schlagen häufig fehl, weil durch Ingestion großer Mengen von Wasser (bis hin zu lebensbedrohlicher Hyperhydratation) die Gewichtssituation kaschiert wird. Dissimulationsfähigkeit und der Erfindungsreichtum sind enorm, selbst im stationären Umfeld wird jede Möglichkeit genutzt, um jegliche Gewichtszunahme zu vermeiden. Appelle an Vernunft und Compliance gehen initial sehr häufig ins Leere.
Zunehmender Körperkult & Schlankheitswahn
„Gewichtssorgen“, ein subjektiv negatives Körperbild, wenig Selbstbewusstsein, geringe soziale Unterstützung, Schönheitsideale, deren BMI im pathologischen Bereich liegt, überhöhte Anforderungen sowie Leistungs-und Anpassungsdruck sind die Grundlagen für Essstörungen. „Diätempfehlungen“ in „Gesundheitsrubriken“ von Medien leisten einen zusätzlichen Beitrag. Körperkult und Schlankheitswahn sind in den Industrieländern derzeit immanent – Schlanksein wird mit Schönheit und Erfolg gleichgesetzt. Je entwickelter ein Land, desto unzufriedener sind Frauen und tw. auch Männer mit ihrem Gewicht. Umfragen haben gezeigt, dass kaum eine Frau in Österreich noch nie eine Diät gemacht hat.
Noch Besorgnis erregender ist die Situation bei Kindern und Jugendlichen: Eine Untersuchung an Wiener Schülerinnen zeigte, dass 52,4 % der 14- bis 17-jährigen Mädchen und 15,2 % der Burschen bereits eine Diät hinter sich hatten. Auslösend ist das subjektive Gefühl, „zu dick zu sein“: In Wien sind 90 % der Mädchen und 80 % der Frauen mit ihren Körperproportionen unzufrieden und liegen damit im Trend: In Westeuropa fühlen sich ca. 40 % der unter- bis normalgewichtigen Mädchen und jungen Frauen zwischen 11 und 19 Jahren „zu dick“.
Eine der wenigen Studien, die in Österreich Trends in der Entwicklung von problematischen Essverhaltensweisen bei Kindern und jungen Erwachsenen zwischen 10 und 20 Jahren erhob, ergab einen signifikanten Anstieg an extrem untergewichtigen bzw. extrem übergewichtigen adoleszenten Mädchen zwischen den frühen 90er Jahren und 2004. Die Anzahl der stationären Aufenthalte zeigt folgendes Bild: Während im Jahr 1998 insgesamt 1.520 Personen (90 % Frauen) stationär wegen einer Essstörung behandelt wurden, waren es im Jahr 2008 2.734 (ebenfalls ca. 90 % Frauen) – eine Steigerung von fast 80 % innerhalb von 10 Jahren.


Therapie

Je länger die Erkrankung andauert, umso schlechter ist die Prognose. Früherkennung und das frühe Einsetzen kompetenter Therapie sind also entscheidend. Die Behandlung von Essstörungen ist immer extrem schwierig und aufwändig und sollte daher nach Möglichkeit in spezialisiertem Setting erfolgen. Eine „Durchmischung“ mit Nicht-Essgestörten scheint wenig günstig zu sein.
Die besten Erfolge werden in Einrichtungen erzielt, in denen die PatientInnen eine sehr engmaschige, individualisierte Betreuung durch ein mit den Erkrankungen langjährig erfahrenes Team erhalten. Aversives Verhalten wird erschwert, Krankheitsgewinn nicht zugelassen. Ein normalisiertes Ess- und Sozialverhalten und ein BMI im Normbereich werden nicht als Verlust, sondern als Ziel und Schlüssel für ein gelingendes Leben vermittelt. Wegen der oft bedrohten Vitalfunktionen ist die Interdisziplinarität im Rahmen einer Krankenanstalt mit internistischer Intensivbehandlungskompetenz nötig.
Die essgestörten, vorwiegend jungen PatientInnen sind schwer bis lebensbedrohlich krank, haben jedoch keine Lobby, weil diese Erkrankung noch immer als Makel wahrgenommen wird. Gerade weil sich Essgestörte sehr lange gegen therapeutische Interventionen sträuben, ist allerdings, sobald endlich ein Therapiewunsch besteht, der Druck seitens der Betroffenen und deren Verwandten sehr groß.
Leider ist trotz hohen und steigenden Bedarfs derzeit in der Steiermark keine spezialisierte Einrichtung für schwere Formen adulter Anorexie (BMI < 13) eingerichtet. Es ist zu hoffen, dass auch in Zeiten knapper Budgets eine Therapieeinheit geschaffen werden kann, die diesem hochkomplexen, schwer kranken Klientel eine kompetente Therapie mit langfristiger Erfolgsaussicht ermöglicht.

OÄ Dr. Theresa Lahousen-Luxenberger ist Fachärztin für Psychiatrie auf der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Graz.

Assoz. Prof. Priv.-Doz. Mag. Dr. rer. nat. Sandra Johanna Wallner-Liebmann ist Ernährungswissenschafterin und Landtagsabgeordnete in der Steiermark.

OA Dr. Dietmar Bayer ist Facharzt für Psychiatrie auf der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Graz und Wahlarzt.

Leider ist trotz hohen und steigenden Bedarfs derzeit in der Steiermark keine spezialisierte Einrichtung für schwere Formen adulter Anorexie (BMI < 13) eingerichtet.

 

Fotocredit: Fotolia

Symbolbild 1
 



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