Zur Ärztekammer Steiermark Startseite

Veranstaltungen des Fortbildungsreferates
finden Sie hier

zum Kalender...

AERZTE Steiermark 07-08/2023


Recht auf Versorgung

Der gebürtige Belgier Bart de Witte ist international anerkannter Fachmann für Künstliche Intelligenz (KI) in der Medizin. Bevor er sich dem Thema KI professionell zuwandte, arbeite er in der Sport-Reha. Er ist überzeugt davon, dass KI die Medizin weiterbringen kann. Aber nur, wenn offen damit umgegangen wird.

Wem gehören die medizinischen Daten? Der Person, die sie betreffen oder demjenigen, der sie erhoben hat?

Das Eigentum an Gesundheitsdaten ist ein komplexes und sich weiterentwickelndes Thema, das je nach dem rechtlichen und regulatorischen Rahmen des jeweiligen Landes oder der Gerichtsbarkeit variiert. Die Frage des Eigentums an Gesundheitsdaten gewinnt an Bedeutung, da der Einfluss der künstlichen Intelligenz – KI – eine zusätzliche Frage aufwirft. Wem sollte nämlich das aus den extrahierten Daten gewonnene Wissen gehören? Es stellt sich die Frage, ob es sich um ein Gemeinschaftsgut, ein öffentliches Gut oder ein privates Gut handelt. Die Antwort auf diese Frage hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir Gesundheitsdaten sammeln, speichern, analysieren und nutzen.

Es ist wichtig anzumerken, dass der einzelne Datensatz eines Individuums oft wenig direkten Wert hat. Der Wert liegt vielmehr in den Beziehungen und Zusammenhängen zwischen den Daten vieler Menschen. Durch die Anwendung von KI können Muster und Erkenntnisse aus großen Datensätzen gewonnen werden, die wiederum zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der medizinischen Forschung beitragen können.

Die Frage des Eigentums an Gesundheitsdaten gewinnt an Bedeutung, da immer mehr Daten gesammelt und analysiert werden. Eine mögliche Perspektive ist die Auffassung, dass Gesundheitsdaten ein Gemeinschaftsgut sind, da sie das Potenzial haben, das Wissen und die Gesundheit der globalen Gesellschaft insgesamt zu verbessern. In diesem Fall würden das Eigentum und die Verwaltung der Daten in die Hände der Gemeinschaft oder einer öffentlichen Institution fallen. Eine andere Sichtweise betrachtet Gesundheitsdaten als privates Gut, das dem individuellen Eigentum unterliegt. Dies würde bedeuten, dass jeder Mensch das Recht hat, über seine eigenen Gesundheitsdaten zu verfügen und zu kontrollieren, wer Zugriff darauf hat. Diese Perspektive betont die individuellen Rechte, vernachlässigt jedoch den Aspekt der Solidarität innerhalb unserer europäischen Gesundheitssysteme. Die Frage des Eigentums an Gesundheitsdaten ist also komplex und es gibt keine einheitliche Antwort. Es erfordert einen breiten gesellschaftlichen Diskurs und eine sorgfältige Abwägung der verschiedenen Interessen und Werte, um zu einer angemessenen Lösung zu gelangen.

 

Wie lässt sich sicherstellen, dass die richtige Person die Kontrolle über die Daten behält?

Welche Personen sind die richtigen? Jene, die unsere Daten nutzen, um daraus Profite zu generieren, oder jene, die sie nutzen, um daraus öffentlich zugänglich Wissen zu kreieren? Ist es angemessen, wenn ich als Patient meine Zustimmung für die wissenschaftliche Nutzung meiner Daten gebe, um neue Erkenntnisse zu generieren, die anschließend privatisiert werden? Industrielle Drittmittel werden zunehmend genutzt, um Erkenntnisse aus Patientendaten zu privatisieren. Patientendaten werden zunehmend durch proprietäre Regeln kontrolliert, und nur wenige sprechen darüber, weil die Drittfinanzierung für die Wissenschaft nun Abhängigkeiten von der Industrie geschaffen hat. Während wir mehr und mehr Interoperabilitätsstandards schaffen, die den Datenfluss unterstützen, errichten andere rechtliche und finanzielle Mauern, um den Datenfluss wieder zu bremsen. Ich kenne Wissenschafter in Deutschland, die einen Antrag bei einem großen Pharmakonzern stellen müssen, um Zugang zu Patientendaten zu erhalten, die in einem öffentlich-rechtlichen Krankenhaus gespeichert sind.

Wenn ich im Vorschlag für den Europäischen Datenraum lese, dass geistige Eigentumsrechte und Geschäftsgeheimnisse für die Sekundärnutzung unserer Gesundheitsdaten geschützt werden sollen, scheint es, als würden die finanziellen Interessen im Vordergrund stehen. Deshalb wundert es auch nicht, dass der Vorschlag unseres Europäischen Rechts auf Gesundheitsversorgung niemals erwähnt wird.

Die Generaldirektorin von DIGITALEUROPE, des wichtigsten Lobbyverbands der globalen IT-Branche auf EU-Ebene, Cecilia Bonefeld-Dahl, behauptete kürzlich sogar, dass bis zu 90 % der Daten europäischer Unternehmen noch nicht als geistiges Eigentum geschützt sind, und sie schrieb an Ursula von der Leyen, dass sie sich gegen eine gemeinsame Nutzung ausspricht.

Der European Data Governance Act soll in Zukunft Prozesse, Strukturen und einen rechtlichen Rahmen für die gemeinsame Nutzung von personenbezogenen und nicht-personenbezogenen Daten schaffen. Dies könnte eine Lösung sein. Datentreuhänder wären vertrauenswürdige Stellen, die die Kontrolle über die Daten übernehmen. Sie würden sicherstellen, dass die Interessen der Patienten und der Öffentlichkeit geschützt werden, während sie gleichzeitig für wissenschaftliche Zwecke den Zugang zu den Daten ermöglichen. Datentreuhänder agieren als unabhängige Einrichtungen und könnten sicherstellen, dass die Verwendung der Daten mit ethischen Grundsätzen und rechtlichen Anforderungen in Einklang steht. So könnten sie etwa sicherstellen, dass die Daten anonymisiert oder pseudonymisiert werden, um die Privatsphäre der Patienten zu schützen. Die Einrichtung von Datentreuhändern würde eine transparente und verantwortungsvolle Nutzung der Daten gewährleisten, ohne sie direkt zu privatisieren.

Die digitale Gesundheitswirtschaft braucht dringend Zugang zu diesen Daten, sollte aber verpflichtet werden, bei deren Nutzung nach offenen Grundsätzen zu arbeiten. Offene wirtschaftliche Systeme sind schneller, innovativer und vor allem kostengünstiger. Dies konnten wir kürzlich beobachten, als offene Systeme offene Alternativen zum großen Sprachmodell GPT schufen. Sogar ein Google-Ingenieur gab in einem geleakten Dokument zu, dass sie keine Chance haben, mit Open-Source-KI-Systemen zu konkurrieren. Wir sollten auf jeden Fall vermeiden, dass Gesundheitsdaten einen direkten Kapitalwert erhalten, denn wenn dies geschieht, wird die Akkumulation von Daten einer Vermögenskonzentration folgen, die dann im Laufe der Jahre auf den Finanzmärkten zu einer Konsolidierung führen wird – ob nun in Oligopolen oder im Monopol. Wir würden das Marktversagen, das zur Machtkonzentration von Big Tech geführt hat, wiederholen.

Haben KI-Systeme in der Medizin eine Sonderstellung, was die verarbeiteten Daten und deren Kontrolle anlangt?

Ich denke schon, weil der Zugang zu lebensrettendem Wissen von extremer Bedeutung ist, wenn wir die Gesundheit der Bevölkerung schützen wollen. Heutzutage tun KI und Big Tech das, was die Pharmaindustrie Ende des 19. Jahrhunderts getan hat – sie industrialisieren medizinisches Wissen. Ärzte könnten ein ähnliches Schicksal erleiden wie die Apotheker, die die Hoheit über die Wissensgenerierung verloren haben und größtenteils zu Verkäufern pharmazeutischer Produkte geworden sind.

In Artikel 35 unserer Europäischen Charta der Grundrechte wird betont, dass ein hohes Gesundheitsschutzniveau bei der Festlegung und Durchführung der Politik und Maßnahmen der Union in allen Bereichen sichergestellt werden muss. Für mich bedeutet das, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um sicherzustellen, dass KI in der Medizin öffentlich zugänglich und transparent bleibt und so zu einem Gemeinschaftsgut wird. Es ist wichtig, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sicherzustellen, dass der Zugang zu medizinischem Wissen und Fortschritt nicht ausschließlich den Interessen von der Finanzindustrie (VCs) und Big-Tech-Unternehmen unterliegt.

Brauchen wir neue rechtliche Rahmenbedingungen?

Ja, natürlich! Große KI-Firmen wie OpenAI und Microsoft werden fast wöchentlich wegen Urheberrechtsverletzungen verklagt, da ihre geschlossenen KI-Systeme Algorithmen des maschinellen Lernens nutzen, um Antworten zu generieren. Diese Antworten basieren auf den Mustern, die das System aus den umfangreichen Trainingsdaten gelernt hat. Die US-Bildagentur Getty Images hat StabilityAI vor dem High Court of London wegen Urheberrechtsverletzungen verklagt. StabilityAI hat Millionen von Werken von Getty verwendet, die eigentlich lizenziert werden müssten, um ihr KI-System Stable Diffusion zu trainieren. Ein ähnlicher Fall ereignete sich kürzlich in den USA, bei dem drei Künstler gegen StabilityAI, DeviantArt und die Hersteller der KI-Software Midjourney geklagt haben. Auch hier wurden ihre Bilder ohne Erlaubnis für den gleichen Zweck verwendet. Was geschieht, wenn mithilfe von KI neue Erkenntnisse aus Patientendaten generiert werden, etwa in Form von neuen Biomarkern, ist noch nicht eindeutig geregelt. Sollten Unternehmen die Möglichkeit haben, KI-Ergebnisse mittels Urheber- oder Patentrecht zu schützen, obwohl der Großteil der Arbeit von Maschinen übernommen wurde? Das würde bedeuten, dass Unternehmen, die über die meisten Daten und Rechenkapazität verfügen, einen Vorteil hätten. War das der eigentliche Sinn hinter der Erfindung des Urheberrechts? Als Bürger sollten wir die Entscheidungsbefugnis darüber haben, ob die KI, die mit öffentlichen Geldern finanziert wurde und auf Patientendaten basiert, zu öffentlich zugänglichen KI-Systemen und -Innovationen führt. Andernfalls werden wir den Fehler wiederholen, dass einige wenige große Unternehmen wie Elsevier oder Springer den Zugang zu wissenschaftlichem Wissen kontrollieren und profitabler sind als Google und Facebook, obwohl sie Inhalte und Wissen nutzen, wofür sie nicht bezahlt haben und die größtenteils mit Steuergeldern finanziert wurden. Open-Access-Initiativen versuchen, dies zu beheben. Liegt darin nicht bereits die Antwort darauf, wie wir die KI in der Medizin regulieren sollten? Um dies zu vermeiden, sind neue rechtliche Rahmenbedingungen notwendig. Gemeinsam mit anderen Organisationen wie z. B. der Creative-Commons- und der Open-Source-Initiative besprechen wir den Bedarf von neuen Lizenzmodellen; wie z. B. eine Copyleft-Lizenz für Daten. Im Gegensatz zu traditionellen Urheberrecht-Lizenzen, die die Nutzung und Verbreitung beschränken, erlaubt eine Copyleft-Lizenz ausdrücklich die Weitergabe, Veränderung und Nutzung des ursprünglichen Werkes sowie der daraus abgeleiteten Werke. Sie stellt sicher, dass die ursprüngliche Freiheit und die Bedingungen der Lizenz für alle abgeleiteten Werke beibehalten werden. Eine solche Copyleft-Lizenz würde es ermöglichen, anonymisierte Patientendaten zu teilen und zu verbreiten, und für das Trainieren von KI-Modellen zu nutzen, während gleichzeitig gewisse Bedingungen festgelegt werden, die weiterhin die Freiheit und den Zugang für andere Nutzer gewährleisten.

Die Nutzung solcher Lizenzen könnte von Datentreuhändern überwacht werden, um sicherzustellen, dass unsere Daten und ihre abgeleiteten Werke nicht privatisiert werden und das daraus gewonnene lebensrettende Wissen zu einem Gemeinschaftsgut wird. Dieser Ansatz ist nicht neu und wurde bereits erfolgreich in der Softwarewelt eingeführt. Copyleft-Lizenzen haben dazu beigetragen, dass viele erfolgreiche Open-Source-Projekte entstanden sind, die von einer aktiven Community unterstützt und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Sie fördern die Zusammenarbeit, den Austausch von Wissen und den freien Zugang zu Informationen und Technologien. Was könnten wir uns in der Medizin noch mehr wünschen?

Wird Gesundheitsversorgung durch KI zwangsläufig zur Handelsware?

Bei Handelswaren sinkt der Preis in der Regel mit steigender Nachfrage, was akzeptabel wäre. Das aktuelle Problem besteht darin, dass lebensrettendes Wissen zu Vermögenswerten umgewandelt wird. Bei Vermögenswerten hingegen steigt der Preis, wenn die Nachfrage zunimmt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Pharmaindustrie, in der der Preis von Insulin in den USA in den letzten 20 Jahren um 1.200 Prozent gestiegen ist, obwohl das Patent vor 100 Jahren für nur einen Dollar verkauft wurde. Diese Auswirkungen auf den Finanzmarkt haben dazu beigetragen, dass im letzten Jahr über 100.000 Menschen in den USA an Diabetes gestorben sind. Der Fall von Martin Shkreli, der den Preis eines lebenswichtigen Medikaments drastisch erhöhte, ist ein Beispiel dafür, wie dieses System schädlich sein kann. Wir sollten bestrebt sein, solche Fälle zu vermeiden und sicherzustellen, dass lebensrettendes Wissen für alle zugänglich und erschwinglich bleibt, um das Wohl der Menschen zu schützen. Daher ist es wichtig, unsere Daten durch rechtliche, ökonomische und politische Maßnahmen zu schützen, um zu verhindern, dass sie zu reinen Vermögenswerten werden. Wir müssen sicherstellen, dass lebensrettendes Wissen als gemeinschaftliches Gut betrachtet wird und als Open-Source entwickelt wird, damit es nicht zu einem Spielball in den Händen weniger profitgetriebener Unternehmen wird.

Sie sagen, Daten seien das Leben. Gibt es aber eine Weiterentwicklung ohne wirtschaftliche Anreize?

Welche wirtschaftlichen Anreize gibt es? Bevor wir die Wirtschaft ankurbeln können, müssen wir zunächst die Grundlagen schaffen, um KI-Innovationen überhaupt voranzutreiben. Wenn Gutenberg genauso über Daten gedacht hätte wie einige heute, hätte er das gedruckte Alphabet patentiert. Wo wären wir dann? Hätte es die Aufklärung gegeben? Und hätten wir makro-ökonomisch mehr oder weniger wirtschaftliche Wertschöpfung generiert? Es ist allgemein bekannt, dass das Internet, das auf Open-Source basiert, niemals so erfolgreich geworden wäre, wenn es auf geschlossenen Standards aufgebaut worden wäre. Wie groß ist der Beitrag des Internets zur Wertschöpfung heutzutage? Ohne das Internet wären Unternehmen wie Google, Amazon oder Meta nicht existent. Beim Humanen Genomprojekt wurde politisch entschieden, dass es nicht patentierbar ist und dass wir die Natur in digitaler Form nicht patentieren können. Trotzdem hat dies zu einer enormen ökonomischen Wertschöpfung in Billionenhöhe geführt, aber durch gesunden Wettbewerb zu immer niedrigeren Preisen. Warum sollte es bei unseren Gesundheitsdaten anders sein? Durch den Zugriff auf Open-Source-KI-Technologien können Unternehmen erhebliche Kosten einsparen, was zu kostengünstigeren Lösungen führen wird. Statt teure proprietäre Lösungen zu erwerben, können sie auf vorhandene Open-Source-Ressourcen zurückgreifen, die kostenlos oder zu geringeren Kosten verfügbar sind. Ärzte und Ärzte-Verbände könnten so genannte Referenz-KI-Modelle entwickeln und die klinischen Standards für die Industrie definieren. Kleine und mittlere Unternehmen können dank des Internets KI-Technologien nutzen, ohne dabei ihre eigene Souveränität einzubüßen. Open-Source ist kein kostenloser Biergenuss, aber es erlaubt jedem von uns, ein Bier unabhängig zu brauen.

In Europa gibt es weitgehend das Recht auf Versorgung unabhängig von wirtschaftlichen Möglichkeiten der einzelnen Person. In den USA etwa ist das anders. Besteht nicht das Risiko, dass KI wirtschaftlich agierende Systeme à la USA bevorzugt, ja sogar europäische Systeme transformieren könnte?

Die Frage stellt sich nicht, weil es unbestreitbar ist, dass Open-Source-Communities KI-Modelle schneller und billiger entwickeln können als große Unternehmen wie Google oder OpenAI. Durch die Demokratisierung der Softwareentwicklung gibt es mehr Entwickler, die unabhängig von großen Unternehmen arbeiten wollen, als Entwickler, die für solche Unternehmen arbeiten. Als ChatGPT ins Leben gerufen wurde, beschäftigte OpenAI weniger als 500 Personen. Das europäische CLAIRE-Forschungsnetz etwa besteht aus 461 Labors und Institutionen, die sich gemeinsam für europäische Spitzenleistungen im Bereich der KI einsetzen, und umfasst ein Netzwerk von über 25.000 Personen. Das größte Problem, das ich sehe, ist, dass diese Netzwerke keine gemeinsame Vision und kein gemeinsames Ziel haben, weshalb ich Hippo AI gegründet habe. Unser Hauptaugenmerk bei Hippo AI liegt darauf, die medizinische KI zu demokratisieren und unserer Community zu dienen, die auf dieser Vision aufbaut. Bei HIPPO AI haben wir in nur vier Monaten über 1.000 KI-Forscher und Kliniker zusammengebracht und wollen in den nächsten drei Jahren bis zu 100.000 Menschen zusammenbringen. Laut der WHO gab es im Jahr 2019 über 1,8 Millionen praktizierende Ärzte in der europäischen Region. Wir sehen Ärzte als die wichtigsten Teilnehmer in unserer Gemeinschaft und glauben fest daran, dass sich viel mehr Ärzte aktiv an der Gestaltung von KI-Projekten beteiligen werden. Ich bin vollkommen überzeugt davon, dass wir in Europa die Fähigkeit besitzen, unsere europäischen Werte und Normen mithilfe von Open-Source-KI weltweit zu verbreiten. Wenn wir in Europa keine Open-Source-KI einführen, wird es schwer sein, das Recht auf Versorgung unabhängig von den wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Einzelnen umzusetzen. Wahrscheinlich würden wir uns eher in Richtung eines Gesundheitssystems bewegen, das dem in den USA ähnelt, wo mittlerweile das menschliche Leben kapitalisiert wird.

Kann Digital auch sozial sein? Und wenn ja, wie kann es funktionieren?

Absolut. Als Sozialunternehmer habe ich in den letzten Jahren viel experimentiert und Hypothesen getestet. Mein Hauptziel war es, herauszufinden, wie wir gemeinsam mit der Wirtschaft den sozialen und indirekten wirtschaftlichen Wert von Gesundheitsdaten maximieren können. Nach vielen Jahren des Scheiterns und Lernens habe ich erkannt, dass die Hauptursache für die ökonomische Ausbeutung von Gesundheitsdaten im Finanzmarkt liegt. Dank der finanziellen Unterstützung einer großen Pharmafirma konnte ich bei der Datenspendekampagne www.viktoriaonezero.org für Brustkrebsdaten mitwirken und wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Dabei habe ich festgestellt, dass es viele Unternehmen und Investoren gibt, die Offenheit, Transparenz und die Entwicklung von Open-Source-KI unterstützen. Das Hauptproblem besteht jedoch darin, dass es derzeit keine Anreize für mehr Offenheit und Transparenz gibt, da Investoren, die auf Nachhaltigkeit setzen, dies nicht bewerten können. Investoren nutzen heute ESG-Kriterien, um die Nachhaltigkeitsleistung von Unternehmen zu bewerten und in umweltfreundliche und sozial verantwortliche Anlagen zu investieren. ESG steht für Environmental, Social und Governance und bezieht sich auf Kriterien, anhand derer Unternehmen ihre Nachhaltigkeitsleistung beurteilen. Dabei werden Umwelt- und soziale Auswirkungen sowie Aspekte der Unternehmensführung berücksichtigt. ESG-Kriterien werden immer wichtiger, um nachhaltige Entscheidungen zu treffen und langfristig Werte zu schaffen, und sie werden von Investoren, Unternehmen und anderen Interessengruppen zunehmend berücksichtigt. Gemeinsam mit über 50 Wissenschaftlern haben wir ein Framework entwickelt, das zur Bewertung von KI-Lösungen im medizinischen Bereich genutzt werden kann. In diesem Zusammenhang unterscheiden wir zwischen regenerativer und extraktiver KI. Regenerative KI stellt einen nachhaltigen Ansatz dar, um den extraktiven Charakter herkömmlicher KI-Geschäftspraktiken im Gesundheitswesen anzugehen. Sie integriert die Prinzipien von ESG (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) und trägt dazu bei, die Gesamtbewertung von Unternehmen zu verbessern und gleichzeitig zu den Zielen der nachhaltigen Entwicklung (SDGs) beizutragen, insbesondere zu SDG 1, 3, 4, 5, 8, 9, 10 und 11. Im herkömmlichen KI-Entwicklungsprozess werden oft öffentliche Daten und Ressourcen genutzt, ohne etwas zurückzugeben, was zu Intransparenz und neuen Informationsasymmetrien führen kann. Regenerative KI hingegen basiert auf Open-Source-Prinzipien und fördert die Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten, um Informationsasymmetrien abzubauen. Sie nutzt die Ressourcen der Gemeinschaft und gewährleistet Transparenz in Bezug auf die Funktionsweise von Algorithmen. Gleichzeitig ermöglicht sie die Wiederverwendbarkeit von KI-Modellen und minimiert Datenasymmetrien. Unser Ziel ist es, eine nachhaltige Zukunft im Gesundheitswesen zu schaffen, die von KI geleitet wird und den gesamten sozialen Wert freisetzt, der im Ökosystem der Gesundheitsdaten vorhanden ist. In Zusammenarbeit mit mehr als 50 Wissenschaftlern, darunter 2 Nobelpreisträgern, arbeiten wir derzeit an der Weiterentwicklung dieses Konzepts. Wir planen, das Framework im November in Genf weltweit vorzustellen, um die Integration von ESG-Prinzipien in die KI-Entwicklung im medizinischen Bereich voranzutreiben.

Die WHO vertritt in einer Studie die These, dass Digital Health bildungsferne Teile der Bevölkerung und ländliche Regionen benachteiligen kann. Wie beurteilen Sie das?

Was ist Digital Health? Wenn Digital Health genau so wie in der Finanzindustrie definiert wird – jeder in ländlichen Regionen hat Zugang zu Bankdienstleistungen –, sehe ich das als etwas Positives. In vielen Teilen Afrikas gibt es keine Bankfilialen. Die Menschen sind direkt auf mobiles Banking umgestiegen, sogar früher als in westlichen Ländern. Digital Health kann ebenso den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen verbessern. Allerdings müssen die Lösungen lokal entwickelt werden und den Bedürfnissen der Gemeinschaft vor Ort dienen. Dafür sind Open-Source-Bibliotheken und -Bausteine notwendig, damit eigenständige Lösungen entwickelt werden können, die in den sozio-kulturellen Kontext der Gemeinschaft integrierbar sind.

Kritiker befürchten, dass durch KI eine Art digitale Parallelwelt entsteht. Sehen Sie diese Gefahr auch? Wie lässt sich ihr entgegenwirken?

Diese digitale Parallelwelt gibt es bereits ohne KI. Armin Nassehi, ein Soziologe von der LMU, beschreibt in seiner Theorie der Digitalisierung, dass die Digitalisierung eine Verdopplung der Welt durch Daten darstellt. Diese Verdopplung vollzieht sich unsichtbar und führt dazu, dass der Mensch nicht nur eine biologische Existenz hat, sondern auch eine informationelle Identität besitzt. Tatsächlich hat Luciano Floridi, ein Technologiephilosoph aus Oxford, in seinem Werk The Informational Nature of Personal Identity genau diese Thematik beschrieben. Er argumentiert, dass die Digitalisierung zu einer wesentlichen Veränderung unseres Verständnisses von persönlicher Identität führt. Durch die zunehmende Vernetzung und den Austausch von Daten wird die informationelle Dimension unseres Selbst immer bedeutender. Es entsteht eine Art digitale Doppelgänger-Welt, in der unsere Identität sowohl biologische als auch informationsbezogene Aspekte umfasst. Diese Veränderungen werfen Fragen auf, v. a. im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre und die menschliche Würde und Integrität, den Zugang zu Informationen und die Kontrolle über unsere digitalen Identitäten. Angesichts der Digitalisierung des Körpers stellt sich die Frage, wie es um unser europäisches Recht auf Unversehrtheit steht, wenn unsere Identität als informationelle Entität betrachtet wird, wie es von Luciano Floridi beschrieben wird. Gemäß diesem Recht ist es verboten, den menschlichen Körper oder Teile davon als Mittel zur Gewinnerzielung zu nutzen. Angesichts der rasanten Expansion der digitalen Sphäre ist es meiner Ansicht nach dringend erforderlich, neue digitale Rechte einzuführen, die uns einen gleichwertigen Schutz gewährleisten. Die Verdopplung der digitalen Welt hat weitreichende Auswirkungen auf unser tägliches Leben und stellt uns vor neue Herausforderungen. Um den Fortschritt und die Chancen der digitalen Transformation voll auszuschöpfen, müssen wir sicherstellen, dass unsere Rechte und Freiheiten in dieser neuen Dimension gewahrt bleiben. Nur durch die Schaffung geeigneter digitaler Rechte können wir sicherstellen, dass individuelle Privatsphäre, Datenintegrität und persönliche Autonomie respektiert werden. Die zunehmende Vernetzung und der Zugriff auf unsere digitalen Identitäten erfordern einen rechtlichen Rahmen, der uns vor Missbrauch schützt und gleiche Schutzstandards wie in der physischen Welt gewährleistet. Es besteht sonst die Gefahr, dass wir in einer digitalen Feudalherrschaft landen, in der Plattformen und große Tech-Unternehmen die Regeln bestimmen und über den Zugang zu Informationen und Ressourcen entscheiden. Der freie Zugang zu Informationen und Wissen ist entscheidend für persönliches Wachstum, individuelle Bildung und soziale Entwicklung. Öffentliche Bibliotheken ermöglichen breiten Bevölkerungsschichten den Zugang zu einer Vielzahl von Bildungsressourcen und Informationen. Sie fördern Chancengleichheit, bieten eine Plattform für lebenslanges Lernen und kulturelle Teilhabe, und dienen als Treffpunkt für die Gemeinschaft. In der digitalen Ära erweitern Bibliotheken ihre Dienstleistungen, um auch den Zugang zu digitalen Ressourcen und Online-Inhalten zu ermöglichen. Sie sind unverzichtbare Institutionen, die den freien Zugang zu Informationen und Wissen fördern und somit einen positiven Einfluss auf persönliches Wachstum, Bildung und soziale Entwicklung haben. Angesichts der aktuellen technologischen Feudalismus-Tendenzen, bei denen Daten zur Kontrolle und Ausbeutung konzentriert sind, benötigen wir Gegenmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die Welt der Daten nicht einseitig beherrscht wird. Es ist wichtig, digitale öffentliche Räume zu schaffen, um den freien Zugang zu Daten und Wissen zu gewährleisten, anstatt sie zu privatisieren. Ähnlich wie bei physischen Bibliotheken benötigen wir digitale öffentliche Bibliotheken als Ressourcen für die Entwicklung digitaler Bausteine, etwa  für die Entwicklung von KI-Diensten. Dies würde eine digitale Demokratisierung von Daten und Wissen ermöglichen. Die Software-Community hat bereits gezeigt, dass eine solche Realisierung möglich ist. In den letzten 30 Jahren haben Softwareentwickler durch globale offene Zusammenarbeit den Zugang zu Software-Codes demokratisiert. Diese Art von Zusammenarbeit hat zu einer breiten Verfügbarkeit von Open-Source-Software geführt, die von vielen Menschen genutzt und verbessert werden kann. Ähnliche Prinzipien könnten auf den Zugang zu Daten und Wissen angewendet werden, um sicherzustellen, dass sie für alle zugänglich und nutzbar sind.

Genau das ist das Ziel von HIPPO AI in der Medizin. Wir setzen uns dafür ein, die Entwicklung von medizinischer Künstlicher Intelligenz als Gemeingut voranzutreiben. Dazu stellen wir Ressourcen und Werkzeuge zur Verfügung und setzen uns besonders dafür ein, die Industrie von der Zusammenarbeit und dem Teilen von Ressourcen zu überzeugen. Unser Ziel ist es, die Fortschritte in der medizinischen KI voranzutreiben und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Vorteile dieser Technologie allen zugutekommen.

 

Die Fragen stellte Martin Novak.

 

Foto: stability.ai (KI-Bidgenerator)




zur Übersicht
Folgen Sie uns: Folgen Sie uns auf YoutubeFolgen Sie uns auf XFolgen Sie uns auf Facebook

Die Ärztekammer Steiermark . Alle Rechte vorbehalten

IMPRESSUM | DATENSCHUTZERKLÄRUNG | PRESSE