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AERZTE Steiermark 10/2022

 

Am Stundenplan: Mathe, Deutsch – und Psychische Gesundheit

Zu Schulbeginn forderte Kathrin Sevecke, die Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die schnellstmögliche flächendeckende Einführung eines Schulfaches „Psychische Gesundheit“. Steirische Expert*innen geben in AERZTE Steiermark ihre Einschätzung dazu ab.

„Ein besseres Rüstzeug bei psychischen Erkrankungen und Symptomen“ sollen Kinder und Jugendliche durch das von Sevecke vorgeschlagene Schulfach Psychische Gesundheit erhalten, zudem solle die „Hemmschwelle für frühzeitige Hilfesuche“ gesenkt werden.

Steirische Fachärztinnen und Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie/-heilkunde und Schulärztevertreter*innen sehen darin Chancen oder lehnen den Vorschlag, differenziert argumentiert, ab. Ein Überblick.

Schulfach: ja oder nein

„Die Einführung eines Schulfaches zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (…) halte ich für sehr sinnvoll. Denn oft bekommen die Kinder und Jugendlichen schon mit, wenn etwas nicht stimmt – bei sich oder anderen – wissen aber nicht, was sie dann tun sollen und haben Angst vor Stigma“, erklärt Isabel Böge, MUG-Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Primaria der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am LKH Graz II

„Ausgezeichnete Idee!“, lautet der Kommentar der niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiaterin Doris Hönigl. „Dies wäre schon längst überfällig“, bekräftigt Norbert Kriechbaum, Facharzt für (Kinder- und Jugend-)Psychiatrie in Graz, und auch Lisa Hirschberger, Ärztin in Basisausbildung an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie meint „das hätte bereits wesentlich früher etabliert werden sollen. (…) Alles, was Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag zu bewältigen haben, steht und fällt mit ihrer (psychischen) Gesundheit.“

Aber auch kritische Stimmen richten sich gegen die Form des Schulfaches: „Psychische Gesundheit mit Schüler*innen als wichtigen Teil für Wohlbefinden zu thematisieren ist definitiv sinnvoll“, betont Angela Huber-Stuhlpfarrer, Vizepräsidentin der Österreichischen Gesellschaft der Schulärzt:innen Österreichs. „Einem eigenen Unterrichtsfach ,psychische Gesundheit´ stehe ich kritisch gegenüber.“ Auch Christine Kopp, Ärztliche Leiterin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Zentrums in Feldbach, merkt an: „Ich kenne privat viele Lehrer*innen und alle geben an, sich mit dem Unterrichten dieses Faches überfordert zu fühlen. (…) Aus meiner Sicht ist es ratsam, wenn Fachpersonen Aufklärungen zum Thema psychische Gesundheit durchführen.“

„Jede Form einer Stärkung der psychischen Gesundheit ist zu unterstützen“, erklärt Kinderfacharzt Martin Müller, Schulärztereferent der steirischen Ärztekammer. „Diese Maßnahmen sollten meines Erachtens nach aber immer im Rahmen eines Gesamtkonzeptes implementiert werden.“ Auch andere gesundheitsfördernde Maßnahmen – wie die Vermittlung eines positiven Körpergefühls – sollten Teil dieses Konzeptes sein.


Ab welchem Alter sinnvoll?

„Psychische Gesundheit kann man in allen Altersstufen unterrichten“, erklärt der niedergelassene Kinder- und Jugendpsychiater Christoph Göttl. „Die nationale psychiatrische Krise, die mit der Coronapandemie begonnen hat und jetzt durch den Krieg in der Ukraine (und) die zunehmende wirtschaftliche Destabilisierung (…) befeuert wird, betrifft jedoch am stärksten Jugendliche in der Pubertät und junge Erwachsene. (…) Deswegen sehe ich (…) die effizienteste Zeit zur Schulung psychischer Gesundheit am stärksten in den Jahren zwischen 12 und 18.“

„Ab der ersten Volksschulklasse“ findet Doris Hönigl das Schulfach sinnvoll. „Die Themen und die Vermittlung sollten dann passend für jede Altersgruppe gewählt werden.“ 

„Es gibt kein ,zu früh´, um essenzielle Themen, welche das gesamte weitere Leben beeinflussen, zu erlernen“, bekräftigt Lisa Hirschberger. „Ab zehn Jahren“, rät Christine Kopp; circa ab dem zwölften Lebensjahr Martin Müller. „Letztendlich sind alle Altersgruppen geeignet, wenn die Themen altersgerecht aufgegriffen werden“, betont Primaria Böge. Sie schlägt ein Unterrichtsjahr im Kindesalter (9–10) und eines im Jugendalter (14–16) vor.


Wie das Schulfach helfen könnte

„Es gibt zwei Aspekte, die man berücksichtigen sollte: a) Psychoedukation im Sinne von Wissen hilft mir, Problemen zu begegnen und b) (…) achtsamen Umgang mit sich selbst lernen“, differenziert Böge. „Je besser ein Kind handlungsfähig ist, umso resilienter ist es gegenüber psychischen Erkrankungen.“

Die heilende Kraft der Kreativität würde Norbert Kriechbaum gerne nutzen: „Die Schüler könnten in Form von Malen, Zeichnen, Singen und Schreiben lernen, ihre Gefühle zu benennen.“ In eine andere Richtung geht der Vorschlag von Christine Kopp: „Aus meiner Sicht wäre es wichtig, dass externe Fachpersonen zum Beispiel im Rahmen von Workshops präventiv tätig sind und Jugendliche wissen, an wen sie sich wenden können, um Hilfe zu erhalten. Dies könnte auch im Rahmen des bereits bestehenden Schulfaches ,soziales Lernen´ erfolgen.“

„Ich denke, dass hier alle Themen, die die Resilienz der Kinder und Jugendlichen stärken, vermittelt werden sollten“, so Martin Müller. Auch auf positive Aspekte von Krisen sollten die gelehrten Inhalte aus Sicht Christoph Göttls eingehen: „Psychische Gesundheit besteht aus zwei Grundpfeilern: Psychische Stabilisierung, wenn es mir nicht gut geht, und psychisches Wachstum, also der Frage, was uns in Krisen stärkt und wachsen lässt.“

„Ein Schwerpunkt sollte auf dem sozialen Miteinander liegen. Was bedeutet es, sich ausgeschlossen zu fühlen? Was kränkt mich und wann verletze ich andere?“, sind die Ansätze von Doris Hönigl.

Über all diesen Bereichen liegt die grundsätzliche Anforderung der Assistenzärztin Hirschberger: „Der Stoff muss (…) von gutem, engagiertem Lehrpersonal vermittelt werden. Von Menschen, die das glauben und leben, was sie lehren.“


Was die Schüler*innen lernen sollten

Was ist eine Depression, ab wann bin ich in Gefahr, süchtig zu werden? Wie nutze ich soziale Medien … Doris Hönigls Liste der Lehrinhalte umfasst vieles, wobei ihr vor allem der Praxisbezug wichtig ist. Aus diesem Grund schlägt sie beispielsweise den Besuch eines Zentrums für Essstörungen vor, das Einladen einer Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und für das Jugendalter: selbständiges Recherchieren.

„Was tue ich, um meine Ressourcen zu stärken?“, möchte Primaria Böge gelehrt wissen. „Dann aber auch: Was tue ich, wenn ich bemerke, dass was nicht stimmt, bzw. wenn ich bemerke, dass bei meiner Freundin/meinem Freund was nicht stimmt. Neben Wissen zu einzelnen häufigen Störungsbildern ist es wichtig, konkrete Handlungsempfehlungen zu geben. (…) Psychische Erkrankung hat viel mit Hilflosigkeit und Resignation gegenüber inneren unlösbaren Dilemmata zu tun.“

Schulärzte-Vizepräsidentin Huber-Stuhlpfarrer möchte gesellschaftspolitische Aspekte integrieren und „für Schüler*innen erfahrbar (…) machen, dass soziale Wirklichkeiten beeinflussbar sind. Ziel sollte unter anderem sein, dass Kinder und Jugendliche sich als handlungsfähig erleben und wissen, an wen sie sich wenden können, wenn es ihnen nicht gut geht.“ Insbesondere die psychische Gesundheit sei Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten, der Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen sei bewusst zu machen.

Einen schulzentrierten Ansatz wählt hingegen Hirschberger: „Der Umgang mit Stress, Angst und Prüfungssituationen sollte unbedingt gelehrt werden.“ Als praktischen Teil schlägt sie „Übungen zur Selbstakzeptanz, Selbstbewusstsein und Selbstliebe vor“ sowie „Maßnahmen gegen ,Perfektionismus-Denken`“.

„Die Kinder könnten erfahren, dass das Aussprechen von Gefühlen hilft!“, so Kriechbaum. „Es müsste auch vermittelt werden, dass es Hilfe gibt und diese auch gut wirkt.“ Christine Kopp möchte den jungen Menschen die Fähigkeit vermitteln, zwischen normalen Verhaltensweisen im Zuge der Pubertät und einer psychischen Erkrankung zu unterscheiden. Sie propagiert eine gesamtheitliche Sicht auf Gesundheit, die „Achtsamkeit, Sport, wertschätzende(n) Umgang mit anderen Menschen und gesunde Ernährung“ beinhaltet.


Erste Hilfe für die Kinderpsyche

Einig sind sich alle Ärztinnen und Ärzte, die sich an der Umfrage von AERZTE Steiermark beteiligt haben, dass die rasche Einführung eines Schulfaches Psychische Gesundheit nicht zu erwarten ist – egal ob sie sie befürworten würden oder nicht. Alle haben sich aber auch an der Ideensuche beteiligt, wie den Kindern und Jugendlichen im schulischen Setting rasch geholfen werden könnte.

„Ich schlage den Ausbau von Projekten wie ,Verrückt? Na und!` vor (…), bei dem Professionisten und Betroffene Schüler über psychische Erkrankungen und Hilfsangebote aufklären“, so Christine Kopp. „Auch das Projekt ,Gesund aus der Krise` wurde sehr gut angenommen.“

„Verpflichtende Morgenrunden, um einen Überblick über die Befindlichkeit von sich, den Mitschülern und Lehrer*innen zu bekommen“, sieht Norbert Kriechbaum als erste, leicht umzusetzende Maßnahme.

„Es gilt, niederschwellige Beratungsmöglichkeiten (…) (Schulpsychologie, Schulärzt*innen, Schulsozialarbeiter*innen und Schülerberater*innen) zu nutzen und auch Zugänge zu psychologischen und psychotherapeutischen Angeboten zu erleichtern“, so Huber-Stuhlpfarrer. „Die Schulpsychologie kann hier am ehesten eine Unterstützung vor Ort in die Wege leiten, jedoch sind diese Kapazitäten natürlich auch begrenzt. (…) möglicherweise wären etwas einfühlsamere und realistischer denkende Politiker schon einmal ein Ansatz?“, lautet der Interventionsansatz des Schulärztereferenten Müller. Christoph Göttl würde darauf setzen, „als ersten Schritt vorhandene Ressourcen wieder ins Bewusstsein zu bringen“ und Netzwerkwissen zu vermitteln, wo sich Betroffene Hilfe holen können. Göttl möchte auch die „Grundlagen psychischer Gesundheit sichtbar machen“ und die „Bedeutung zwischenmenschlichen Kontakts, die regulierende Kraft von Musik, Bewegung, Ernährung, Selbstwahrnehmung und Spiritualität“ hervorheben.

„Vielleicht lassen sich Exkursionen und Einladung von Expert*innen ja bereits vor Einführung des Faches organisieren“, so der Tipp von Doris Hönigl. Auf Informationstage setzt auch Primaria Böge – und auf neue Medien: „eine Website für Schulen, auf der altersgerechte Informationen eingestellt sind“, aber auch auf „Apps für Kinder mit psychischen Problemen“ als Thema im Unterricht.

Was den Expert*innen noch wichtig ist: „Es sollte sich um kein Fach mit Tests und Benotungen handeln“, ist Hönigl wichtig hervorzuheben. Psychische Gesundheit in der Schule zu fördern könne, so Kriechbaum, „nur gelingen, wenn die gesamte Atmosphäre an den Schulen sich verbessert“.


Feuer am Dach

1.505 österreichische Jugendliche gaben vor einem Jahr für die Studie Mental heath burden of high school students, and suggestions for psychosocial support, 1,5 years into the COVID-19-pandemic von Rachel Dale et al. über ihr psychisches Befinden Auskunft.

78 Prozent davon waren Mädchen – dieser auffallend hohe Anteil entspricht in etwa dem Mädchenanteil bei den Akutaufnahmen in der Tiroler Kinder- und Jugendpsychiatrie im selben Betrachtungsjahr (74,4 Prozent).

Das erschreckende Fazit von Rachel Dale, einer Mitarbeiterin am Zentrum zur Erforschung psychischer Gesundheit der Universität für Weiterbildung in Krems: Klinisch relevante Symptome einer Depression zeigten 62 Prozent der Mädchen und 38,1 Prozent der männlichen Jugendlichen, im Bereich einer Angststörung waren es 49 Prozent der Mädchen und 29 Prozent der Burschen. Unter Schlafstörungen litten 28 Prozent der jungen Frauen und 17 Prozent ihrer Kommilitonen. 47 Prozent der Mädchen und 32 Prozent der Buben hatten in den zwei Wochen vor der Befragung an einen Suizid gedacht. „Qualitative data show that young people have a need for more psychological support, both professional and informal, as well as increased mental health literacy“, so Dales Resümee. Ein Schulfach „Psychische Gesundheit“ könnte einerseits den Zugang zu professioneller Hilfe erleichtern und andererseits die gewünschte „mental health literacy“ erweitern.
 

Fotos: Adobe Stock, Shutterstock




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