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Dosiertes Temperament

Neonatologe Ewald Ritschl entdeckte in der Pension eine neue Leidenschaft: Das Schreiben von Büchern über das, was er im sozialen Alltag und in den Grenzsituationen menschlichen Lebens erfahren hat. Sein Erstlingswerk „Mein rätselhaftes Kind“ ist Anfang September erschienen, das zweite Buch nimmt gerade Form an.

U. Jungmeier-Scholz

Ewald Ritschl hat eine Botschaft, eine Vorstellung davon, wie das menschliche Zusammenleben besser laufen könnte. Sie fußt auf seinen Überzeugungen und speist sich aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung an der Seite von zumeist schwer kranken Kindern. Daraus, möchte man meinen, ergibt sich fast logischerweise, dass jemand ein Buch über Kinder schreibt.
Aber so klar war die Entwicklung vom Arzt zum Sachbuchautor nicht: „Vor zwanzig Jahren hat ein Bekannter von mir ein Buch geschrieben – und mein erster Gedanke war nur ‚Was der sich antut’“, erzählt er. Damit Ritschl das Anfang September im Verlag Styria erschienene Buch „Mein rätselhaftes Kind“ verfassen konnte, musste er zweimal in seinem Lebenslauf einen Haken schlagen: Einerseits konnte er zunächst Kindern und damit der Pädiatrie wenig abgewinnen, andererseits wollte er – wie erwähnt – nie ein Buch schreiben.
 

Nur nichts mit Kindern

Zu den Kindern: Als Ältester von vier Brüdern erlebte Ritschl mit fünf Jahren den ersten Familienzuwachs und als Siebenjähriger die Geburt der Zwillinge Peter und Paul. „Ich habe mir damals gedacht, die schreien und stinken nur und sabbern meine Mutter an.“ Alles, nur nichts mit Kindern, war daher Ritschls Devise als angehender Arzt. Und selbst der Weg zum Arztberuf war ihm nicht vorgezeichnet.
Ritschl stammt aus dem niederösterreichischen Seibersdorf an der Leitha, wo er auf einem Bauernhof geboren wurde. Im Alter von fünf Jahren übersiedelte er nach Spillern, weil sein Vater dort die Stelle eines Gutsverwalters angetreten hat. Er maturierte in Wien bei den Schulbrüdern, ging zum Heer – und hatte in all diesen Jahren keine klare berufliche Perspektive. Vieles erschien ihm möglich, denn seine Neigungen waren breit gefächert: Er überlegte, wie sein Vater in die Landwirtschaft zu gehen, aber auch der Lehrberuf stand kurz zur Diskussion … „Ich war offen für Vieles, wollte aber jedenfalls mit Menschen arbeiten.“
Nach einem halben Jahr beim Bundesheer wurde ihm plötzlich „ganz klar“, dass er Medizin studieren wollte. Ein Entschluss, der innerfamiliär Schule gemacht hat: Auch seine drei jüngeren Brüder wurden Ärzte. Und das, obwohl bis dato kein Familienmitglied Medizin studiert hatte. „Eine Spontanmutation“, resümiert Ritschl lächelnd.
Er begann sein Studium in Wien, wo er daneben als Domführer in St. Stephan seine Finanzen stabilisierte. Ab der Pathologie zog er nach Graz und konzentrierte sich ganz auf das Studium, das er eineinhalb Jahre später abschloss.


Wortlose verstehen

Im Turnus schob er die Kinderheilkunde ganz ans Ende seiner Ausbildung, zu fern lag ihm die Welt der Kleinen. „Meine Angstgegner“, so bezeichnete er sein damaliges Verhältnis zu Kindern. „Doch dann haben mich die Kleinen gefangen.“ Behutsam Zugang zu dem finden, was sie verschweigen, woraus aber manchmal ihre Krankheiten resultieren – das war Ritschls Vision. Und um sie noch ein bisschen herausfordernder zu gestalten, landete er schließlich bei den Frühgeborenen, die eigentlich alles verschweigen, wenn man nicht lernt, ihre wortlose Sprache zu verstehen. Ritschl nahm mit all seinen Antennen auf, was er über die Frühchen lernen konnte und verfolgte wachsam den Aufbau der Intensiv-Neonatologie am Grazer Klinikum durch Professor Wilhelm Müller, den er sehr schätzt. Ritschl schaute den Schwestern aufmerksam auf die Finger, wie zart sie mit den zu früh Geschlüpften umgingen und wie ihre Zuwendung auf feine Resonanz stieß. Vieles lernte er auch von den Eltern – wie sie um ihre Winzlinge kämpften. „Gerade die Grenzsituationen haben mich nachhaltig geprägt“, resümiert er heute.
Auch die Nachsorge mit ihren Freuden über gut entwickelte ehemalige Frühchen sowie manchmal die traurige Einsicht, dass nur eingeschränkt geholfen werden konnte, gehörte zu Ritschls Berufsalltag. Anfang 2011 ging er als Assistenzprofessor schließlich in Pension, verließ das Klinikum aber nicht wirklich. „Ungefähr einmal pro Woche bin ich dort, um den Studierenden zur Seite zu stehen. Auf Neo Intensiv sind die Studierenden manchmal das Schlusslicht, weil die Kleinen mit ihren Problemen nicht darauf warten, bis einer von uns Großen für sie Zeit hat“, erklärt Ritschl. „Aber ich gehe dort in keinem Arbeitsprozess mehr ab und kann mir Zeit für die Studierenden nehmen.“


Emotionalität dosieren

Studierendenbetreuung auf der Klinik – das war dem unverheirateten, kinderlosen Ritschl in der Pension letztlich doch zu wenig. Nachdenklich stellte er fest, dass er eigentlich über das soziale Verhalten der Zwei- und Dreijährigen noch nicht tiefer nachgedacht hatte. So begann die Recherche – und plötzlich wollte er doch auch schreiben. Wohl wissend, dass er damit ein Großprojekt starten würde: Viereinhalb Jahre verbrachte er mit der Entschlüsselung von Botschaften der rätselhaften Kinder. „Denn ich tüftle gerne an Texten“, gibt er zu. „Wenn mir in der Nacht eine Idee kommt, stehe ich sofort auf und notiere sie.“ Sein lebensnaher Stil versetzt die Lesenden fast in ein fiktives Gespräch mit dem Autor. Denn Ritschl will nicht nur berichten, sondern auch viel berichtigen, was im Umgang mit Kleinkindern seiner Meinung nach dringend verbessert gehörte. „Ein Krabbler ist nicht überall dran, um seine Eltern zu ärgern, sondern weil ihn die unstillbare Neugierde antreibt“, wirbt er um Verständnis für die Kleinen. „Erst im dritten Lebensjahr wird Handlungsplanung überhaupt erst möglich – vorher planen Kleine nicht, sondern reagieren auf das, was ihnen gerade in den Weg kommt. Erst recht tun sie nichts in böser Absicht.“
Von seiner Lektorin lernte er, seine Emotionalität im Buch überlegt zu dosieren. „Der Schreiber darf schon sein Temperament durchleuchten lassen, aber er muss dabei aufpassen“, erklärt er rückblickend. Ritschls Temperament findet sich trotzdem deutlich in seinem Text, der schließlich fast vierhundert Buchseiten umfasst. Der Autor will den Zugang zu Kleinkindern erleichtern und die Eltern bestärken, aber nicht zuletzt auch in andere Bahnen leiten. „Um dem Subjektiven etwas zur Seite zu stellen“, befragte er zudem ausgewählte Elternpaare nach ihren Erfahrungen und Meinungen und verflocht deren Zitate im Buch mit der eigenen Darstellung.
 

Literarische Gattung Arztbrief

Als „absoluten Newcomer“ beschreibt Ritschl sich in Bezug aufs Texten, doch beim näheren Hinschauen stimmt das so nicht ganz. Die Wahl der Worte – „Ich bastle wie ein Uhrmacher an meinen Sätzen“ – und die Bilder, die er dadurch in den Lesenden erzeugt, waren ihm immer schon wichtig. Im Laufe der Berufsjahre hat er den Arztbrief als literarische Gattung für sich entdeckt und nach all den trockenen, notwendigen Worten gerne etwas hinzugefügt, das Menschlichkeit durchklingen lässt. Da stand dann beispielsweise im Zuge einer Nachbetreuung „Mami kann schon die Schultasche besorgen“ als Zeichen dafür, dass sich dieses Frühgeborene hervorragend entwickelt hat. Jahre später hat ihn die Mutter auf diese Formulierung angesprochen, an die sie sich noch heute gerne erinnert.
Nach Jahrzehnten, in denen Ritschl neben den Arztbriefen ausschließlich wissenschaftliche Texte verfasst hat, fiel es ihm trotzdem nicht schwer, zu einem allgemein verständlichen Stil zu finden. Dabei half ihm der laufende Umgang mit den Studierenden. „Anfangs verstehen sie naturgemäß noch wenig von pädiatrischer Intensivmedizin – dieses Wissen muss man eben aufbauen.“ Zur Praxisnähe seiner Vorlesungen gehörte unter anderem, dass Ritschl – um zu zeigen, was auch Neugeborene schon können – manchmal einen Säugling in die Vorlesung mitnahm. Mitsamt Mutter natürlich.


Mehr Fragen als Antworten

Apropos Mutter: In erster Linie wollte sich Ritschl mit seinem Buch an die Väter wenden. Ihnen zeigen, was sie versäumen, wenn sie sich nicht einbringen, aber auch Verständnis dafür schaffen, was sich in der Mutter-Kind-Dyade der ersten Zeit abspielt.
Im zweiten Buch, das eigentlich schon länger in seinem Kopf herumgeistert als „Mein rätselhaftes Kind“, soll mehr von den Eltern als von den Kindern die Rede sein. Von den großen Menschen als Vorbildern für die Kleinen. Von der Schwierigkeit, das Richtige nicht nur zu erkennen, sondern auch umzusetzen. Denn einen Missstand sähe Ritschl gerne beseitigt: die Zunahme des Egoismus, die ausschließliche Ich-Sicht mancher Mitmenschen. „Ich will den Eltern Überlegungen hinhalten, die sie dann an ihre Situation anpassen können.“ Schon in seinem ersten Buch findet sich nicht auf jede aufgeworfene Frage eine klare Antwort.

Trotz allen Ärgers über die Egoisten in unserer Gesellschaft glaubt Ritschl fest an das Gute in jedem Einzelnen. „Wir sind keine Engel, aber wir alle verfügen über die Fähigkeit, aufmerksam und liebevoll zueinander zu sein“, postuliert er. „Wie das geht, zeigen uns tagtäglich Millionen von Menschen – die Verliebten.“

 

Fotos: Styria, beigestellt




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