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Wie tickt der Patient?

Das Milieu, in dem Patientinnen und Patienten leben, hat starken Einfluss auf die Arzt-Patienten-Beziehung. Auch die Auswirkungen auf Vorsorge oder Therapietreue sind massiv. 

Von Robert Ernst-Kaiser

Die „Zielgruppe“ einer Ärztin bzw. eines Arztes ist im Prinzip recht einfach definiert: eine Person, die entweder krank oder verletzt ist. Sie kann jung, alt, wohlhabend oder arm sein. Für das Team des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Integral sind diese Beschreibungen ein wenig zu ungenau. Das belegt Integral unter anderem mit einem Beispiel zweier britischer Herren: Beide sind 1948 geboren, geschieden, leben in einer neuen Beziehung, haben erwachsene Kinder und verfügen über eine prall gefüllte Brieftasche. Trotz dieser Gemeinsamkeiten dürften die beiden Herren, Prince Charles und Ozzy Osbourne, beim Gang zum Arzt unterschiedliche Probleme haben oder in der Kommunikation verschiedene Ansprüche stellen.

Stärker als rein demografische Daten und Einkommensklassen verbindet die Menschen der gemeinsame Lebensstil und die Grundwerte, die sie vertreten. Für die Marktforschung wurden daher so genannte Sinus-Milieus entwickelt (siehe Infokasten „So ticken die Gruppen“). Diese Segmentierung von Gesellschaften, auf Grundlage von Wertorientierungen und Lebensstilen zu Gruppen, wurde vom Heidelberger Sinus-Institut entwickelt, Integral  hat dieses Institut übernommen.

Das Janssen Forum der Janssen-Cilag Pharma GmbH hat Integral nun beauftragt, die unterschiedlichen Zugänge dieser Sinus Milieus zu Gesundheitsfragen zu untersuchen. Ob Einstellung zu Gesundheit, Arzt-PatientInnenbeziehung, Eigenverantwortung oder Vorsorge – es gibt kaum einen Bereich, in dem sich diese Gruppen nicht von einander unterscheiden würden (siehe Grafik).

So hat das Milieu zum Beispiel Auswirkungen auf die Erwartungen der Ärztinnen und Ärzte. Während die traditionellen Milieus noch eher autoritätsgläubig sind, treten die Performer gegenüber Ärztinnen und Ärzte selbstbewusst auf, sind aber weniger kritisch als zum Beispiel die Postmateriellen, denen bei Ärztinnen und Ärzten die Soft Skills besonders wichtig sind. Die größte Herausforderung laut dieser Studie stellen die Digitalen Individualisten dar: Für diese ist die Ärztin/der Arzt keine Respektsperson – sie hegen hohe Erwartungen, stellen Diagnosen schnell in Frage und sind auch schnell bereit, die Ärztin/den Arzt zu wechseln. Auch auf die Kompetenz zu Gesundheitsfragen hat die Milieu-Zugehörigkeit Auswirkungen. Die Konsumorientierte Basis zeigt sich öfters überfordert bei Fragen zur Gesundheit, ist resignativ und zeigt ein geringes Körper- und Gesundheitsbewusstsein. Auch ein großer Teil der Bürgerlichen Mitte zeigt Anzeichen der Überforderung bei Gesundheitsfragen und eine geringe Kompetenz bei der Informationsbeschaffung.

Therapietreue
Nur 51 Prozent der Milieus sind therapietreu – bei den Traditionellen sind es immerhin 65 Prozent. Die Hedonisten („Verweigerer“) bilden mit 32 Prozent in dieser Untersuchung das Schlusslicht. Auch beim Thema Vorsorge gehen die Werte innerhalb der Milieu-Gruppen auseinander (siehe Grafik). 25 Prozent der Traditionellen nehmen Vorsorgeuntersuchungen wahr, ebenso auch die Konsumorientierte Basis. In der Gruppe der Performer lassen sich hingegen fast 40 Prozent jährlich durchchecken. Für dieses Milieu ist Gesundheit eine Ressource, die vor allem den Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit garantiert.

Für Erich Eibensteiner, Geschäftsführer von Janssen in Österreich, ergeben sich aus der Studie viele Fragen: „Haben Ärzte überhaupt die zeitlichen Ressourcen, um auf Patienten individueller einzugehen? Wie begegnet man den kritischen fatalistischen Milieus, die kaum Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen wollen? Wie kann man Appelle an gewisse Milieus so formulieren, dass sie etwas bewirken?“ Für Patientenanwalt Gerald Bachinger ist nach Durchsicht der Studie wünschenswert, „dass diese Ergebnisse in die künftige Fort- und Weiterentwicklung des Gesundheitssystems Eingang finden.“

Internist, Onkologe und Psychotherapeut Alexander Geiger wendet seit Jahren einen integrativen Ansatz an, in dem er Erkenntnisse der Patient¬entypologie berücksichtigt. Dabei werden im Rahmen einer psychoonkologischen Basisdiagnostik körperliche, seelische und soziale Einflussfaktoren auf Krankheitsverlauf und Arzt-Patient-Kommunikation erhoben, die dann als Ausgangspunkt der Beratungsgespräche dienen.

„Während wir heute in praktisch allen Gebieten der Medizin evidenzbasiert arbeiten, verwenden wir in der ärztlichen Gesprächsführung nach wie vor das berüchtigte ‚Learning by doing‘, bei dem sich der Arzt intuitiv auf die Bedürfnisse seines Gegenübers einstellt (oder eben auch nicht). Die Beschäftigung mit Patiententypologien erweitert die Handlungsoptionen“, so der im AKH Wien tätige Mediziner.

Wie eine solche Differenzierung der Patientinnen und Patienten in Zukunft erfolgen kann, bedarf einiger Klärungen. Einer der wichtigsten Punkte wäre – wenn man etwa an die Leistungsvergütung denkt, – die Aufwertung der Gesprächsmedizin.


Die Umfrage „Der Patient im Mittelpunkt“ wurde im Dezember 2013/Jänner 2014 durchgeführt. Integral Markt- und Meinungsforschung führte dazu 1.000 Mixed Mode Interviews mit Österreicher¬Innen durch (780 Onlineinterviews mit regelmäßigen InternetnutzerInnen & 220 telefonische Interviews mit seltenen und NichtnutzerInnen des Internet).


Die Milieus verstehen

„Die Sprache der Problem-Milieus sprechen und verstehen lernen.“ Integral-Geschäftsführer Bertram Barth zieht Schlussfolgerungen aus der Umfrage „Der Patient im Mittelpunkt“.

AERZTE Steiermark: Wie kann die Ärztin/der Arzt die Patientin/den Patienten in der gegebenen – meist kurzen – Zeit einordnen?
Bertram Barth: „Eine exakte schnelle Einordnung ist in kurzer Zeit nicht möglich und auch nicht notwendig. Was wichtiger ist: Das Bewusstsein für Problem-Milieus zu schärfen, speziell für ihre kommunikativen und psychischen Dispositionen, damit auch flexibel und empathisch auf spezifische Problemlagen reagiert werden kann.“

Welche Milieus brauchen in Gesundheitsfragen die meiste Aufmerksamkeit?
Barth: „Die zentralen ‚Problem‘-Milieus mit einem hohen Ausmaß gesundheitlicher Probleme und gleichzeitig geringem Gesundheitsbewusstsein sind die Konsumorientierte Basis, die Hedonisten und die Traditionellen. Das sind gleichzeitig auch die Milieus, die sich am wenigsten artikulieren und von daher leicht ‚übersehen‘ werden.“

Wie ist mit kritischen Milieus umzugehen, die für ihre Gesundheit kaum Verantwortung übernehmen?
Barth: „Wenig zielführend sind moralische Appelle oder Drohungen mit Gesundheitsgefährdung. Vielmehr geht es darum, die sozialen und materiellen Benefits einer zielführenden Lebensstiländerung zu propagieren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verstehen, was die jeweiligen Milieus wirklich bewegt, was für sie motivierend ist. Im Fall der Konsumorientierten Basis etwa ist das zentrale Motiv, mithalten zu wollen, anerkannt zu sein, an die Standards der Mitte anzuschließen. Damit ist ihr Leitmilieu die Bürgerliche Mitte. Die Argumentation für Lebensstiländerung könnte nun z. B. auf die Leitlinie der Bürgerlichen Mitte Bezug nehmen: ‚Alles mit Maß und Ziel‘. In diesem Zusammenhang sollte man gesündere Ernährung, Bewegung, mäßigerer Alkoholkonsum etc. als Standards der Mitte erläutern.“

Gibt es für die Ärztin/den Arzt ein „einfach zu behandelndes“ Milieu?
Barth: „‚Einfach‘ sind am ehesten die Milieus, deren Lebenswelten für die Ärzte aufgrund ihrer eigenen Milieu-Lagen am ehesten zugänglich sind. Ärzte kommen in der Regel aus den gehobenen Milieus der Etablierten, Performer oder Postmateriellen. Schwer nachvollziehbar sind für sie die Milieu-Logiken der momentbezogenen Lustmaxierung der Hedonisten oder der resignativen Verweigerung der Konsumorientierten Basis.“

Welche Schlüsse sollen/müssen Entscheidungsträger im österreichischen Gesundheitssystem aus dieser Studie ziehen?
Barth: „Die unterschiedlichen Lebenswelten implizieren unterschiedliche gesundheitsbezogene Lebensstile und damit auch differenzielle gesundheitliche Problemlagen. Dabei stehen bestimmte Milieus im Vordergrund, weil sie für die Entscheider leichter verständlich sind und/oder sich klarer und offensiver artikulieren. Die Milieus mit den bedenklichsten Risikoprofilen dagegen artikulieren sich kaum. Gerade deswegen ist es notwendig, sich mit diesen Milieu und ihren Lebenswelten besonders intensiv auseinanderzusetzen. Erfolgreiche Gesundheitsförderung setzt voraus, die Sprache der Problem-Milieus sprechen und verstehen zu lernen. Relevante Gesundheitskommunikation setzt damit voraus:
1. Auswahl bzw. Priorisierung der wichtigsten Ziel-Milieus
2. Angemessene Auswahl der Kommunikationskanäle
3. Bestimmung der milieuadäquaten Argumentationsweise
4. Verwendung verständlicher und relevanter Sprache und motivierender visueller Reize.“


Dr. Bertram Barth ist Geschäftsführender Gesellschafter von Integral. Er studierte Psychologie und Völkerkunde.

 

Fotocredit: beigestellt




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