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(Un)heimliche Rationierung

Priorisierung ist für die einen ein Weg zur Transparentmachung der begrenzten Möglichkeiten des öffentlichen Gesundheitswesens, für die anderen der erste Schritt zu einer brutalen „offiziellen“ Rationierung. In Deutschland gibt es eine breite Fachdiskussion. In Österreich offenbar nur hinter vorgehaltener Hand.

Robert Ernst-Kaiser, Martin Novak

Als der damalige deutsche Bundesärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe 2009 das Thema der Priorisierung im Gesundheitswesen offen ansprach, wurde er von PolitikerInnen und Krankenkassenfunktionären heftig geprügelt. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bezeichnete die Aussage als „menschenverachtend“, FDP-Gesundheitsexperte Daniel Bahr sah es eher taktisch und meinte, „wer eine solche Debatte im Wahljahr beginnt, muss sich über so scharfe Reaktionen in der Öffentlichkeit nicht wundern.“
Als Bahr dann zwei Jahre später als amtierender Gesundheitsminister beim 114. Deutschen Ärztetag auftrat, formulierte er seine Ablehnung bereits grundsätzlicher: Es sei „unser Ehrgeiz und unser Ziel, die Versorgungsstrukturen so zu verbessern und die Finanzierung des Gesundheitswesens so nachhaltig zu gestalten, dass Debatten über Rationierung und auch Priorisierung unnötig werden“.
Der Politik, so könnte man meinen, ist heimliche Rationierung weniger unheimlich als eine öffentlich geführte Debatte über die Einschränkung von solidarisch finanzierten Gesundheitsleistungen.
In skandinavischen Ländern (siehe unten) wird das Thema bereits seit Jahrzehnten offen diskutiert und praktiziert.
In Norwegen begann bereits in den 80er-Jahren eine breite Debatte darüber, die zur Einrichtung der weltweit ersten Prioritätenkommission führte. Schweden bildete 1992 eine staatliche Rationierungskommission. In Dänemark rang man sich 1995 dazu durch, ein Priorisierungssystem zu installieren, Finnland zog zehn Jahre später nach. Die Niederlande unternahmen mit der Bildung einer Staatskommission 1990 einen Anlauf, der allerdings im Sand verlief.
Im angloamerikanischen Raum wird in England und im US-Bundesstaat Oregon von Priorisierung gesprochen, tatsächlich handelt es sich um klassische Rationierungssysteme.
Auch in Deutschland war der Hoppe-Vorstoß im Jahr 2009 nicht der Auftakt für die Priorisierungsdiskussion. Bereits zwei Jahre zuvor hatte die Zentrale Ethikkommission der deutschen Bundesärztekammer ein Grundsatzpapier mit dem Titel „Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)“ veröffentlicht.
Darin heißt es:
„Die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dürfte sich in den kommenden Jahren ungeachtet aller Reformversuche durch ausgaben- und einnahmenseitige Faktoren weiter verschärfen. Ein steigender Bedarf an Gesundheitsleistungen ist vor allem durch den demographischen und epidemiologischen Wandel zu erwarten. Gleichzeitig eröffnet der – grundsätzlich zu begrüßende – medizinisch-technische Fortschritt immer neue, nicht selten kostspielige(re) Diagnose- und Therapieverfahren. Sie treiben Bedarf und Nachfrage nach medizinischen Leistungen und damit die Gesundheitsausgaben weiter in die Höhe. Da viele medizinische Innovationen insbesondere älteren Menschen und chronisch Kranken zugute kommen, trägt die Interaktion von medizinischem Fortschritt und demographischem und epidemiologischem Wandel wesentlich zur Ausgabenexpansion im Gesundheitswesen bei.
Angesichts dieser Herausforderungen hält es die ZEKO für dringend erforderlich, auch in Deutschland eine breite öffentliche Diskussion über eine explizite Prioritätensetzung in der solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung zu beginnen und dauerhaft zu implementieren. Ohne dem notwendigen gesellschaftspolitischen Diskussionsprozess vorgreifen zu wollen, unterbreitet die ZEKO im Folgenden Empfehlungen, an welchen normativen – ethischen wie rechtlichen – Maßstäben sich eine Prioritätensetzung orientieren sollte und welche Maßnahmen geeignet sein könnten, den Prozess einer Prioritätensetzung dauerhaft im deutschen Gesundheitswesen zu etablieren.“
Die Kommission definierte dafür klare Rahmenbedingungen: Transparenz (klar erkennbare Kriterien und öffentliche Verfahren), (nachvollziehbare) Begründung aller Entscheidungen, wissenschaftliche Evidenz, Konsistenz, Entscheidung durch demokratisch legitimierte Institutionen, Offenlegung und Ausgleich von Interessenskonflikten, wirksamer Rechtsschutz für PatientInnen und Leistungserbringer sowie freiwillige Selbstkontrolle oder staatliche Regulierung.
Szenenwechsel. Beim deutschen Ärztetag 2013 in diesem Mai ist die Diskussion noch nicht viel weiter als 2007, 2009 und 2011. Dem Thema Priorisierung ist wieder ein Tagesordnungspunkt gewidmet. Der Bevölkerungsmediziner Hans-Heinrich Raspe referiert, der Bericht einer prominent besetzten Arbeitsgruppe unter dem Vorsitz des sächsischen Ärztekammerpräsidenten Jan Schulze liegt zur Diskussion vor.
So brisant das (auch innerhalb der Ärzteschaft umstrittene) Thema auch ist, die Resonanz bleibt verhalten. Ein vorbereiteter Antrag wird wieder zurückgezogen. Zumindest eine kurze Begriffsdefinition wird verlesen, Priorisierung sei die „ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit einer vorab definierten Menge von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden oder anderen Objekten vor anderen.“ Ansonsten wird vertagt: „Es bestehe erhebliche Unsicherheit, wie sich Priorisierung begrifflich zum Begriff Rationierung verhalte. Schulze forderte die Delegierten auf, sich intensiv in die weitere Debatte zur Weiterentwicklung des Themas Priorisierung aus Sicht der Ärzteschaft einzumischen“, berichtet die deutsche Ärztezeitung.
Warum die deutsche Bundesärztekammer diesem Thema so breiten Raum widmet, obwohl damit kaum Sympathiepunkte bei Politik und Bevölkerung zu gewinnen sind, hatte Hoppe bereits 2009 vorgegeben: „Ich will eine Diskussion provozieren, in der die Politik Farbe bekennen muss. Und ich will eine Diskussion in der Gesellschaft anstoßen, wie viel diese bereit ist, für Gesundheit auszugeben.“
Schulze formuliert es in einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt im Mai 2013 ähnlich: „Priorisierung hat nach unserer Auffassung das Potenzial, zur Klärung einer ganzen Reihe von aktuell die Gesellschaft und insbesondere auch die Ärzteschaft beschäftigenden Fragen beizutragen:

Was sind die zentralen Ziele der ärztlichen Tätigkeit? Was ist ihr zentraler Aufgabenbereich? In welchem Verhältnis stehen der in der MBO (Musterberufsordnung, red.) genannte Dienst für die Gesundheit des ‚einzelnen Menschen‘ und der für die des ‚ganze(n) Volk(es)‘ zueinander? Was sind die Grenzen einer ‚wunscherfüllenden Medizin‘? …“
Das Problem der Priorisierungsdebatte: Die nordischen Länder, die sich damit befassen, haben eine gut gelernte Kultur der unmittelbaren politischen Beteiligung, auch wenn es um heikle und emotionalisierende Fragen geht. Die Entscheidungen über die Gesundheitsversorgung fallen weitgehend auf regionaler Ebene. Und Norwegen zählt zu den reichsten Ländern der Welt.
Und so vernünftig der Vorschlag einer wissenschaftlich gut begründeten „gesundheitspolitischen Triage“ auf den ersten Blick auch klingen mag, in der Praxis tun sich massive Fragen auf. Das zeigt etwa eine Bevölkerungsumfrage einer deutschen Forschungsgruppe, die im Jahr 2010 veröffentlicht wurde. Darin wurden (was das Priorisierungskonzept allerdings weitgehend ausschließt) auch Bevölkerungsgruppen abgefragt, die bei knappen Ressourcen bevorzugt behandelt werden sollten. Hier landen alte Menschen knapp vor PatientInnen mit eingeschränkter Lebensqualität, Personen mit Kindern und solchen mit geistigen Behinderungen, aber hinter Menschen mit körperlicher Behinderung.
Bei einer internationalen Konferenz der europäischen Gesellschaft für Philosophie in der Medizin und im Gesundheitswesen und des Instituts für biomedizinische Ethik der Universität Zürich 2011 war genau das das Problem. Die Konferenz habe „gezeigt, dass es nicht einfach ist, Priorisierungskonzepte in die Praxis umzusetzen“ bilanziert die Neue Züricher Zeitung.
Angesichts der komplexen Problematik ist es schon fast bewundernswert, wie leicht es sich ein österreichischer Gesundheitsminister macht: „Es hat keine Debatte gegeben, aber es gibt Priorisierungen. Das ist genau die Aufgabe von Gesundheitspolitik“, antwortete er vor einigen Monaten in einem Interview mit der Österreichischen Krankenhauszeitung.
Vielleicht hat er auch nur etwas verwechselt: „Priorisierung ist ein sehr viel anspruchsvolleres Unternehmen als Prioritätensetzung: Bei dieser bleibt die Menge der zu vergegenwärtigenden Objekte im Dunkeln. Prioritätensetzung zielt generell darauf ab, wenige ausgewählte Objekte (zum Beispiel Politikziele einer neuen Regierung), oft freihändig und in werbender Absicht, als besonders wichtig und dringlich herauszuheben“, sagen die Experten Schulze und Raspe im Ärzteblatt.

Das System Schweden
1997 verabschiedete der schwedische Reichstag eine Priorisierungsordnung, welche als Grundlage für die Priorisierung dient. Zum einen wurde in einem demokratischen Prozess das Angebot an gemeinschaftlich finanzierten Gesundheitsleistungen festgelegt und danach wurde der Zugang zu diesen Leistungen nach Prioritäten fixiert.

Priorisierungsgruppe 1

  • Die Versorgung lebensbedrohlicher, akuter Krankheiten
  • Versorgung solcher Krankheiten, die ohne Behandlung zu dauerhafter Invalidisierung oder zu einem vorzeitigen Tod führen
  • Versorgung schwerer chronischer Krankheiten
  • Palliative Versorgung sowie Versorgung in der Endphase des Lebens
  • Versorgung von Menschen mit herabgesetzter Autonomie

Priorisierungsgruppe 2

  • Prävention und Rehabilitation

Priorisierungsgruppe 3

  • Versorgung weniger schwerer akuter und chronischer Erkrankungen

Priorisierungsgruppe 4

  • Versorgung aus anderen Gründen als Krankheit oder Schaden

 

Höchste Priorität hat die erste Gruppe. Innerhalb dieser haben die Versorgungen lebensbedrohender akuter Erkrankungen Vorrang. Die weiteren Teilgruppen haben untereinander den gleichen Rang, wobei die zweite und dritte in abnehmender Reihenfolge öffentlich finanziert werden. Für Leistungen aus der vierten Gruppe gibt es keine öffentlichen Gelder. Als Faktoren der Priorisierung dienen Krankeitsschwere, Dringlichkeit und Wirksamkeit. Das Alter oder die soziale Stellung spielen keine Rolle. Das oberste Prinzip der Menschenwürde und auch das Solidaritätsprinzip wurden mit dieser Priorisierung nicht außer Kraft gesetzt.

„Das ist der falsche Weg“
Der steirische Ärztekammerpräsident Herwig Lindner warnt vor den Folgen der Priorisierung.

AERZTE Steiermark: Sie sehen die Priorisierungsdebatte mit großer Besorgnis und kommen gerade vom deutschen Ärztetag. Wie ist die Diskussionslage dort?
Lindner: Uneinig. Die Scheitellinie der Meinungen zieht sich mitten durch die Ärzteschaft. Wir Ärzte sollten uns hüten, die Ausarbeitung einer Rangordnung der bezahlten medizinischen Leistungen zu unserer Angelegenheit zu machen. Wenn wir das tun, machen wir uns zu Mittätern und verlieren viel vom Vertrauen, das uns unsere Patienten entgegenbringen.

Seit Jahren will die Spitze der deutschen Ärztekammer das Thema Priorisierung auf die Agenda bringen, um die Politik dazu zu zwingen, in der Frage der heimlichen Rationierung Farbe zu bekennen. Das funktioniert offenbar nicht?
Lindner: Ich bin überzeugt, dass das der falsche Weg ist. Weil man dann der Politik das Tor öffnet, aus der Verantwortung dafür zu entkommen, der Bevölkerung sagen zu müssen, dass aus welchen Motiven heraus auch immer Mittel verknappt – also rationiert – werden.

Die Priorisierungsbefürworter in der Ärzteschaft, aber auch die Gesundheitsökonomen, geben angesichts der recht vollen Kassen im deutschen Gesundheitswesen zu, dass man den Menschen derzeit eine Priorisierung nicht verkaufen könne. Was würde Ihrer Ansicht Priorisierung für die praktische Arbeit von Ärzten bedeuten?
Lindner: Die Ärzte müssten ihren Patienten erklären, warum sie welche Leistungen im solidarischen Kassensystem nicht mehr bekommen oder ab jetzt selbst bezahlen müssen, und diejenigen, die die Leistungen eingeschränkt haben – ein Effekt, der auch in Österreich nach Vollwirksamwerden der Gesundheitsreform eintreten wird – fein raus sind. Dafür bin ich nicht zu haben. Die Verantwortlichen müssen selbst vor den Vorhang treten.

Glauben Sie, dass wir in Österreich auch eine solche Diskussion bekommen werden?
Lindner: Ganz sicher. Priorisierung ist ein weiterer Schritt zur Privatisierung von Leistungen im Gesundheitswesen und dieser Trend läuft europaweit. Ein österreichischer Gesundheitsökonom sagte unlängst zu mir: „Da bekommen wir endlich ein neues Geschäftsfeld.“ Und ich sage: „Dann wird wieder Geld vom patientennahen in den patientenfernen Bereich umgelenkt.“ Einer solchen Entwicklung müssen wir uns als Anwälte unserer Patienten entgegenstemmen.

 

Zitate

Ich will eine Diskussion provozieren, in der die Politik Farbe bekennen muss. Und ich will eine Diskussion in der Gesellschaft anstoßen, wie viel diese bereit ist, für Gesundheit auszugeben.“
Der verstorbene deutsche Ärztekammerpräsident Jörg-Dietrich Hoppe, 2009

„Eine verdeckte und intransparente Festlegung der Prioritäten ohne gesellschaftlichen Konsens darf es nicht geben.“
Der deutsche Caritas-Präsident Peter Neher 2011

„Es hat keine Debatte gegeben, aber es gibt Priorisierungen. Das ist genau die Aufgabe von Gesundheitspolitik.“
Gesundheitsminister Alois Stöger in der ÖKZ

FOTO: Fotolia

Symbolbild 1
 



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