AERZTE Steiermark | Dezember 2019

18 ÆRZTE Steiermark  || 12|2019 KOMPLEMENTÄRMEDIZIN anderswo klar gegen Esoterik und Wissenschaftsfeindlich- keit positionieren.“ Anderer- seits, so die TAZ, würden viele Grün-WählerInnen und -Mitglieder auf Globuli und Co. „als sanfte Alternative zur klassischen Schulmedizin“ schwören. Mittlerweile haben sich Gegner und Befürworter unter den deutschen Grü- nen auf eine „österreichische Lösung“ verständigt: die Bil- dung einer wissenschaftlichen Kommission. Der Ton wird rauer Wobei die Lösung nicht gar so österreichisch ist. Denn (auch) hierzulande wird der Ton zunehmend rauer: Ein kritischer Online-Journa- list bezeichnete die kleine Fortbildungsveranstaltung „Komplementärmedizin in der Gynäkologie“ des Kom- plementärmedizin-Referats der Ärztekammer Steiermark vorweg als „Voodoo-Talk“. Der Forderung, wir sollten eine klare Grenze zwischen Scharlatanerie und seriöser Medizin ziehen, wird wohl kaum jemand widersprechen. Aber auf die Frage, wo genau diese Grenze verlaufen sollte, gibt es sehr viele, sehr unter- schiedliche Antworten. Denn leider ist der „Golden Stan- dard“ der Evidenzbasiertheit keine statische Grenze. Was gestern noch „state of the art“ war, kann morgen schon obsolet sein (wie Teilneh- merinnen und Teilnehmer der Grazer Fortbildungstage jedes Jahr von neuem feststel- len, wenn sie die Reihe „Was ist gesichert, was ist obsolet?“ besuchen). Respekt und Dialog Wir sollten uns also nicht allzu sehr auf die Gewissheit verlassen, sondern sie mit Re- spekt und Erhalt des Dialogs kombinieren. Der Dermatolo- ge Theodor Much, ehemaliger Leiter der Hautambulanz am Wiener Hanusch-Kranken- haus, ist bekennender Skep- tiker, Gegner des Irrationalen und einschlägiger Buchautor („Der große Bluff: Irrwege und Lügen der Alternativme- dizin“). In der Neuen Zürcher Zeitung hat er aber geschrie- ben: „Als vor rund 20 Jahren einige junge Kollegen, die sich an meiner Krankenhaus- abteilung für Dermatologie in Ausbildung befanden, von den Wundern der Homöo- pathie schwärmten, suchte ich im Glauben an all die wohlk lingenden Verspre- chen die Zusammenarbeit mit Homöopathen bei der Therapie von verschiedenen Hauterkrankungen. Ich be- und damit Zuwendung. Wäh- renddessen sinkt die Angst vor Krankheiten – weil viele immer seltener als tödlich erfahren werden. Debatte über Erstattungsverbot Gleichzeitig steigt aber die politische Skepsis gegenüber med i zi n ischen Angebo- ten, die nicht als evidenzba- siert betrachtet werden. In Deutschland gibt es eine brei- te Debatte über ein „Erstat- tungsverbot“ der Kranken- kassen für homöopathische Leistungen. Vor einigen Jahren haben alle deutschen Parlamentsparteien die Er- stattung der Homöopathie als freiwillige Kassenleistung begrüßt, mittlerweile gibt es Uneinigkeit. Eine Grün-Po- litikerin und Ärztin wird in der TAZ mit dem Satz zitiert: „Wir Grüne verweisen stets auf die Wissenschaft, wenn es gegen Klimaleugner geht – deshalb müssen wir uns auch HERWIG LINDNER Die Medizin wird immer er- folgreicher. Das ist eine Binsen- weisheit. 1960 lag die durch- schnittliche Lebenserwartung weltweit bei 52,6 Jahren, 2017 bei 72,4 Jahren, in Österreich betrug die durchschnittliche Lebenserwartung im Jahr 1960 68,6 Jahre, im Jahr 2017 81,6 Jahre. Wir wissen natür- lich, dass sich die Medizin diese Entwicklung nicht allein auf ihre Fahnen heften kann. Sie hat auch viel mit besseren Umweltbedingungen zu tun. Aber etwa bei der Senkung der Säuglingssterblichkeit leistet die Medizin einen entschei- denden Beitrag – und 1960 starben in Österreich 35,4 je 1.000 Lebendgeborene (ein- schließlich Totgeburten), 2017 nur mehr 4,9. Umso erstaunlicher mutet es auf den ersten Blick an, dass viele Menschen die medizi- nische Wissenschaft verwei- gern, zum Beispiel das Imp- fen ablehnen und sich esote- rischen Angeboten zuwenden. Auf den zweiten Blick ist es weniger erstaunlich: Die wissenschaftlich geprägte Medizin ist dazu angehalten, über mögliche Risiken umfas- send aufzuklären. Das macht Angst. Gleichzeitig steht sie unter immensem wirtschaft- lichem Druck. Die Zeit für die einzelne Patientin, den einzelnen Patienten wird des- wegen immer knapper. „Al- ternative Anbieter“, die privat bezahlt werden, können et- was bieten, das vielen offenbar wichtiger ist als medizinische Leistungsfähigkeit allein: Zeit Zum Disput über die Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit medizinischer Angebote. Warum wir nach Möglichkeit den Dialog nicht aufgeben sollten. „Strenggenommen kann es nur ei „Der Forderung, wir sollten eine klare Grenze zwischen Scharlatanerie und seriöser Medizin ziehen, wird wohl kaum jemand widersprechen. Aber auf die Frage, wo genau diese Grenze verlaufen sollte, gibt es sehr viele, sehr unterschiedliche Antworten.“

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