AERZTE Steiermark | November 2020
OPFERSCHUTZ CokiĆ. Die wenigsten davon sprechen über die wahren Gründe ihrer Verletzungen, zu sehr hindern sie Angst und Scham davor, sich zu offenbaren. Manche werden vom Täter ins Spital begleitet, oder von Familienmitgliedern, denen sie misstrauen. Andere brau- chen einen Dolmetscher für die medizinischen Gespräche, vor dem sie niemals etwas so Privates aussprechen würden. „In solchen Fällen habe ich mir angewöhnt zu fragen, ob es noch etwas gibt, das der Patient oder die Patientin mit mir unter vier Augen bere- den möchte“, erzählt CokiĆ. Darin sieht sie ihre Aufgabe: Raum zu schaffen für vertrau- liche Gespräche und Mut zu machen, die wahre Geschich- te hinter den Verletzungen zu erzählen. ein. Die holen sich naturge- mäß immer wieder wo blaue Flecken.“ Zuhören hält sie für das Wichtigste. „Manche re- den wie einWasserfall, andere sagen nur zwei Wörter. Nach meiner Erfahrung muss man umso genauer hinschauen, je weniger jemand spricht.“ Lo- cker zwei Stunden verbringe sie dann mit einem Patienten. Im Gespräch biete sie auch Hilfestellung, wenn jemand nach der Klinikentlassung eine alternative Übernach- tungsmöglichkeit benötigt. Weiters organisiert sie die Dokumentation der Beweise. „Bei schweren Verletzungen – und die sind als solche klar definiert – besteht ohnehin Anzeigepflicht. Aber auch in den anderen Fällen dokumen- Alarmzeichen Ärztinnen und Ärzte, so CokiĆ, lernen zu erspüren, bei welchen Patienten eine Gewalterfahrung dahinter- stecken könnte. „Bei skurrilen Verletzungsmustern, aber auch, wenn jemand immer wieder an derselben Stelle eine Verletzung aufweist. Ein- mal kann man ja im Dunkeln gegen einen Kasten laufen, aber dreimal hintereinander ist schon sehr unwahrschein- lich.“ Auch alte Brüche, die sich im Röntgen zeigen, oder Hämatome unterschiedlichen Datums machen sie beson- ders aufmerksam. Gleichzei- tig betont sie, wie sensibel das Thema ist und warnt auch vor Überinterpretation. „Viele äl- tere Menschen nehmen blut- verdünnende Medikamente tieren wir Misshandlungs- spuren. Selbst für jene, die sich noch nicht sicher sind, ob sie den Vorfall überhaupt anzeigen wollen.“ Dabei ar- beitet sie mit dem Ludwig- Boltzmann-Institut und der Gerichtsmedizin zusammen, wo das Material bis zur Ver- jährungsfrist gelagert wird. Manchmal, so CokiĆ, begin- nen Opfer auch ganz uner- wartet, über ihr Martyrium zu sprechen. „Einmal wurde ich als Notärztin von der Poli- zei zur Versorgung einer Frau gerufen, die das Opfer sexu- eller Gewalt geworden war. Aber das wusste noch nie- mand, denn äußerlich wies sie keine schweren Verletzungen auf. Sie wirkte nur irgendwie verwirrt. Es war nach Mit- ternacht, als mich die Frau gebeten hat, das Licht im Rettungswagen auszuschalten, denn dann könne sie reden.“ ÆRZTE Steiermark || 11|2020 15 Foto: Bohn Natalija Coki Ć ist seit Anfang Oktober 2020 Primarärztin der Abtei- lung für Anästhesiolo- gie und Intensivmedizin des LKH Graz II am Standort West. Sie wurde 1968 im serbischen Sombor geboren, studierte in Novi Sad Medizin. 1992 legte CokiĆ die Staatsprüfung zur Ärztin für Allgemein- medizin in Belgrad ab, 1995 wurde ihr Abschluss an der Grazer Universitätsklinikum die Facharztausbildung für Anästhesie und Intensiv- medizin. Ihr medizinisches Portfolio erweiterte sie durch Ausbildungen zur (leitenden) Notärztin, das ERC-Diplom, Ausbildungen zur Risiko- managerin und zur Flugret- tungsärztin sowie durch den Universitätslehrgang für Füh- rungskräfte. Seit 2004 arbeitet sie als Oberärztin am LKH Graz II, Karl-Franzens-Universität Graz nostrifiziert. Von 1998 bis 2004 absolvierte sie am Seit Oktober Primaria am LKH Graz II Standort West, seit 2009 leitet sie an der dortigen Abteilung für Anästhesie die studentische Ausbildung, ein Jahr darauf übernahm sie die Führung des Notarztdienstes am LKH Graz West, seit 2013 fliegt sie als Notärztin mit dem Christo- phorus 12. Mit 2016 übernahm sie auch die Rolle der Spre- cherin der Opferschutzgruppe in der Region Süd-West der Steiermark. Natalija CokiĆ ist verheiratet und Mutter eines erwachsenen Sohnes. „Einmal kann man ja im Dunkeln gegen einen Kasten laufen, aber dreimal hintereinander ist schon sehr unwahrscheinlich.“
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