AERZTE Steiermark | Juli/August 2020
14 ÆRZTE Steiermark || 07/08|2020 KOMMUNIKATION Foto: Nicole Heiling/Quo vadis veritas Versorgung von Grippeerkrankten im Walter Reed Hospital, Washington, D.C., 1918/1919 LUDMILLA REISINGER AERZTE Steiermark: Ad- dendum ist ein Medienprojekt und eine Rechercheplattform – wie ist man hier an die Be- richterstattung über die Coro- nakrise herangegangen? Jan Thies: Wir haben schnell erkannt, dass die Datenbasis, auf der die Entscheidungen in dieser Krise getroffen und gerechtfertigt wurden, äu- ßerst unzureichend war – und leider auch noch immer ist. In Zeiten, in denen die mas- sivsten Einschränkungen seit dem Zweiten Weltkrieg ver- hängt werden und sich viele wisse schaftliche Erkennt- nisse zum Pandemiegesche- hen von heute auf morgen än- dern, ist es wichtig aufzuzei- gen, warum sich Politiker für oder gegen eine bestimmte Maßnahme aussprechen. Ge- nau diesen Prozess haben wir versucht, kritisch und fundiert zu begleiten und – so gut es ging – auf eine trans- parente Datenbasis zu stellen. Ein Artikel auf Addendum zeigt, wie viele Anfragen an Behörden während der Kri- se nicht beantwortet wurden. Was bedeutet diese fehlende Transparenz für den Journa- lismus? Thies: Es frustriert natürlich, wenn man staatliche Maß- nahmen nur bedingt nach- vollziehen kann. Umso mehr, wenn es daran liegt, dass Anfragen entweder sehr lange ignoriert werden oder ohne Erkenntnisgewinn beantwor- tet werden. Das, was uns der Staat nicht sagen kann oder will, bilden wir bei Adden- dum bestmöglich ab, so dass sich der Leser selbst eine Meinung über das staatliche Handeln bilden kann. Die Frage ist vor allem: Wissen es die Behörden nicht oder wollen sie es uns nicht sa- gen? Sind die Behörden auf- grund föderaler, personeller und struktureller Schwächen nicht in der Lage, diese Fra- gen zu beantworten? In der Coronakrise war es oft eine Mischung aus beidem. In den letzten Monaten war der Wissenschaftsjournalis- mus gefragt: Wie geht man als Journalist an solche komple- xen Themen heran? Thies: Wenn man eine Stu- die vor sich liegen hat, ist es entscheidend, sich die Origi- nalstudie genau anzuschauen – und nicht nur die Executive Summary. Man sollte sich mit dem Studiendesign, Sample und den Handlungsempfeh- lungen genau auseinander- setzen und überlegen, wie gesichert das Wissen ist, das hier präsentiert wird. Und vor allem: was sich auf der Basis dieser Studie tatsächlich ableiten lässt. Wissenschaft ist die systematische Wahrheits- suche, aber sie bildet auch immer nur einen kleinen Teil „Die klare Schlagzeile war oft nicht möglich“ Jan Thies, Redaktionsleiter der Rechercheplattform Addendum, über die Coronakrise als Datenkrise, fehlende Transparenz in der öster reichischen Seuchenbekämpfung und Verlautbarungsjournalismus. der Realität und der Wirk- lichkeit ab. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets nur vorläufig, und oft gibt es auch gegenteilige Erkenntnisse. In der Corona-Pandemie wur- de dies oft nicht deutlich genug transportiert. Die kla- re Schlagzeile war eigentlich nicht möglich, und damit hatten viele zu kämpfen. Jakob Augstein, Herausgeber der deutschen Wochenzeitung „Freitag“, hat im Falter gesagt, dass die österreichische Be- richterstattung viel zu lange „seuchenembedded“ gewesen sei. War es so? Thies: Es ist das das A und O des Journalismus, jegli- ches Regierungsgeschehen kritisch zu begleiten. Es gibt den berühmten Satz des deut- schen Nachrichtensprechers, Hanns Joachim Friedrichs der einmal gesagt hat: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazuge- hört.“ Gerade zu Beginn der Coronakrise wurde dieses journalistische Grundprinzip nicht sehr beachtet. Es gab nicht nur einen politischen Schulterschluss, sondern auch einen medialen. Diese Nähe zwischen Medien und Politik fand ich sehr befremd- lich. Das war eher Verlautba- rungsjournalismus: Teilweise haben sich einige Medienbe- richte wie eine Zusammenfas- sung von Pressekonferenzen gelesen. Erst gegen Ende der Pandemie hat sich das lang- sam wieder geändert. Im Gegensatz zu anderen Län- dern gab es in Österreich kei- nen „Chefvirologen“ – waren Fachleute bei uns auch medial unterrepräsentiert? Thies: Sie sind medial zu- mindest nicht gemeinsam mit der Regierung auf Augenhöhe aufgetreten. Medial unterre- präsentiert waren auf jeden Fall kritische Stimmen, die den Lockdown und seine Fol- gen anders beurteilten als die Regierung. Was den Chef- virologen betrifft: Dazu hat Kanzler Kurz im Interviewmit Addendum dargelegt, dass er sich stets mit vielen Fachleuten ausgetauscht hat, aber eben nicht einen speziellen Viro- logen zur wissenschaftlichen Instanz des Landes machen wollte. Das war in Deutsch- land und besonders in Schwe- den anders. Egal für welchen Weg man sich entscheidet, wichtig ist, dass transparent gemacht wird, warum man diesen Weg geht. Das war in Österreich leider sehr oft nicht wirklich nachvollziehbar. Hier geschah zu viel hinter ver- schlossenen Türen. Zu Krisenhochzeiten schlug die österreichische Bundesre- gierung eine Rhetorik an, als „Diese Rhetorik … war fatal.“
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