AERZTE Steiermark | Juli/August 2020

ÆRZTE Steiermark  || 07/08|2020 13 durch die Auseinanderset- zung mit fremden Lebens- entwürfen ihre empathischen Fähigkeiten ausbauen können, engagierte sie sich bei der Gründung einer Veranstal- tungsreihe namens „Leben & Schreiben“. Seit dem Jahr 2013 finden abwechselnd im Literaturhaus Basel und in jener Klinik in Schützen, in der Breznik selbst tätig war, Lesungen mit anschließenden Podiums- und Publikums- diskussionen statt. Sämtliche dort präsentierten Bücher set- zen sich auf ihre Weise mit dem Thema Kranksein aus- einander. „Ich finde die Ver- flechtung von Medizin und Literatur einfach interessant.“ Beistehen beim Sterben „Das Leben braucht das Ster- ben!“, ist sie überzeugt. Und so war es auch erklärtes Ziel des Werkes „Mutter“, „den Tod wieder ins Leben zu- rückzuholen“. Gerne würde sie, die in Scuol auch Teil des Palliativteams ist, mög- lichst viele Angehörige dazu motivieren, den ihnen nahe- stehenden Sterbenden auch buchstäblich nahe zu blei- ben. Regelmäßig Zeit in ih- rer Nähe zu verbringen, ihre Hand zu halten und mit ihnen zu sprechen, selbst wenn sie nicht mehr anwesend zu sein scheinen. Wie sie es bei ihrer Mutter getan hat. Dass einige Rezensenten „Mutter. Chronik eines Ab- schieds“ eins zu eins auto- biographisch interpretierten, ohne die Fiktionalität gewisser Elemente in Erwägung zu zie- gen, damit es sich lohnt, die entsprechende Zeit zu inves­ tieren.“ Denn gerade daran mangelt es Breznik. „Vorrang hat immer mein Alltag als Medizinerin“, stellt sie klar. „Ich bin mit Leib und Seele Ärztin und Therapeutin.“ Zeit fürs Schreiben findet sie am Wochenende, an freien Tagen oder in den Ferien – und im Freiraum zwischen zwei Jobs. Zudem steht sie meist um fünf in der Früh auf, um sich noch vor der Arbeit in ihren Text zu vertiefen. „Ich habe immer eine Ausdrucksform gesucht, zunächst gemalt, dann Musik gemacht. Letztendlich bin ich auf das Wort gekommen.“ Kultur in der Klinik Auch als Ärztin setzt sie auf die Kraft des Wortes: „Ich bin jetzt in jener Ecke der Medizin gelandet, wo das Benennen heilt“, so Breznik. Heilen – oder zumindest lin- dern – durch Benennen findet sich zudem in ihrer Literatur. Dabei macht sie auch vor der Familienhistorie nicht halt, wie beispielsweise ihre Romane Nachtdienst (über den Tod des Vaters) und Das Umstellformat (die Aufarbei- tung des Euthanasietods ihrer Großmutter) zeigen. Breznik schreibt nicht nur selbst re- gelmäßig Tagebuch, sondern motiviert auch ihre Patien- tinnen und Patienten dazu, sich verbal auszudrücken. „Literatur ist wichtig als Ori- entierung“, lautet ihr Credo. Von der Bedeutung der Kultur als heilender Kraft überzeugt, aber auch von der Idee, dass gerade Ärztinnen und Ärzte hen, nimmt sie gelassen. „Re- zensenten haben so ihre eigene Wahrnehmung. Und ich habe keine Mühe damit, mich sel- ber als Projektionsfläche zur Verfügung zu stellen. Ich bin zufrieden mit dem, was das Buch bei den meisten Lesern auslöst.“ Anfangs habe auch sie gezögert, ein so persön- liches Thema literarisch zu verwerten und zunächst mit niemandem über ihr Vorha- ben gesprochen. Schließlich weihte sie ihren Partner und den noch lebenden Bruder ein, der das Manuskript auch vor- ab zu lesen bekam. Schließlich ist auch er Teil der Handlung. Preisgekrönt Der Bruder, meint Breznik, könne gut damit umgehen, mit einer literarischen Figur zu verschmelzen und wahre eine gesunde Distanz zu seinem fiktionalen Pendant. Stolz hat er seiner Schwester berichtet, dass ihr neues Buch auf der ORF-Bestenliste auf Platz 1 rangiert. Diese Platzierung ist nicht die einzige Würdigung; Brezniks literarisches Œuvre wird hochgeschätzt. Obwohl sie schon seit 1993 schreibt und erst sechs Bücher veröffentlicht hat – alle bei Luchterhand –, wurden ihr bereits einige Li- teraturpreise verliehen. 2018 beispielsweise erhielt sie den Bündner Literaturpreis und heuer den ProLitteris-Preis für Literatur, der coronabedingt nicht persönlich übergeben werden konnte. Als Empfän- gerin des Hauptpreises durfte sie den Gewinner des Förder- preises bestimmen und wählte mit Janosch Steuwer einen in Zürich tätigen Historiker, der wie sie selbst Quellen aus der NS-Zeit aufarbeitet. Zurück zur Mechanik Während Melitta Breznik ihre ersten Bücher noch auf der mechanischen Schreibma- schine getippt hat, verwendet sie mittlerweile zur besseren Handhabbarkeit der Textmen- gen den Computer. Die No- tizen, die sie sich während der Entstehungsphase macht, werden jedoch weiterhin kon- sequent mit Füllfeder zu Pa- pier gebracht. In der Pension, erzählt sie, wenn sie wieder mehr Zeit haben werde, könne sie sich vorstellen, zur Schreib- maschine zurückzukehren. Eine private Sammlung von Reiseschreibmaschinen wartet schon darauf, ihre behutsam formulierten Sätze für die Le- serschaft zu konservieren. „Das Leben braucht das Sterben!“ Melitta Breznik ÄRZTIN IM BESONDEREN DIENST Fotos: Mayk Wendt, Luchterhand Das sechste Buch der Psychiaterin und Au- torin Melitta Breznik erschien im Mai 2020 im Luchterhand Verlag. melitta-breznik.ch

RkJQdWJsaXNoZXIy NDYwNjU=